Frankfurt, Berlin, Basel … – praktisch jeden Tag im Juni ist Richard David Precht in einer anderen Stadt. Auch um als Professor Vorlesungen zu halten, aber vor allem, weil er in seinem neuen Bestseller „Jäger, Hirten, Kritiker“ (Goldmann, 288 S., 20 €) über ein brennend aktuelles Thema schreibt. Es geht nämlich um die Chancen und die Risiken der Digitalisierung. Zwischen den Terminen fand der Philosoph aber noch Zeit für ein Gespräch.
Herr Precht, stehen wir heute an der entscheidenden Weichenstellung in der Frage, was es in Zukunft heißen wird, Mensch zu sein?
Richard David Precht: Ja, das denke ich schon. Und zwar sowohl in philosophischem wie auch in ganz praktischem, gesellschaftlichem und ökonomischen Sinne.
Inwiefern?
Precht: Wir müssen sehen, in welcher welthistorischen Situation wir uns befinden. Das ist gar nicht so einfach. Wir haben so viele Jahrzehnte eine ruhige Bundesrepublik erlebt, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen konnte, in eine revolutionäre Zeit zu kommen. Doch die Zeit, die jetzt auf uns zukommt, am ehesten zu vergleichen mit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als die erste industrielle Revolution die Gesellschaft umpflügte. Mit Französischer Revolution, Restauration, Entstehung des Sozialismus. Es entstand damals ein riesiges rechteloses Proletariat, das gnadenlos ausgebeutet wurde, die Lebenserwartung sank, der Himmel wurde schwarz von den Schloten … Es war überhaupt nicht abzusehen, dass das Ganze mal zu so etwas Großartigem führen könnte wie unserer heutigen Gesellschaft. Und eine ähnlich große Herausforderung stellt auch die Digitalisierung dar, die unser Wirtschaftssystem und unser Gesellschaftssystem umpflügt und natürlich auch philosophisch große Herausforderungen mit sich bringt.
Wie sieht der Albtraum aus, in den das führen kann? Und steuern wir auf diesen zu, wenn wir jetzt nicht umsteuern?
Precht: Ja. Die Gefahr liegt in einer sehr smarten, kommoden und sich sehr freundlich anfühlenden kybernetische Diktatur. Sie wird ein anderes Gesicht haben als in China. Dort wird die Verwandlung bereits in Siebenmeilenstiefeln vollzogen in eine digitale Diktatur, in der es keine Freiheit mehr gibt, sondern nur die Frage: Wie kann ich Menschen am besten steuern und lenken, damit sie sozialtechnisch das tun, was ich von ihnen will? Dort macht das der Staat, im Westen sind es die großen Unternehmen aus dem Silicon Valley, die über eine Machtfülle und über Steuerungsmechanismen verfügen, die den Demokratien entgleiten.
Es droht das kybernetische Menschenbild, die totale Kontrolle, eine digitale Diktatur
Welches herrschende Menschenbild zeichnet sich in dieser Entwicklung ab?
Precht: Das kybernetische Menschenbild besagt, der Mensch funktioniert im Grunde nicht anders als eine Ratte im Labor. Was Lust bereitet, da geht man hin, und was Unlust bereitet, das meidet man. Und wenn ich verstanden habe, wie das Lust-Unlust-System eines Menschen aussieht – und das kann ich an seinem Verhalten im Internet wunderbar ablesen –, dann kann ich sein Verhalten algorhythmisieren. Ich kann es vorhersagen, ich kann es steuern. Im Grunde weiß ich dann schon, welcher Wunsch als Nächstes in diesem Menschen entsteht – und das ist die totale Kontrolle. Das widerspricht dem Menschenbild unserer Verfassung, das auf dem Menschenbild der Aufklärung basiert, auf der Vorstellung: Der Mensch ist freier Herr seiner selbst – durch Gebrauch seiner Vernunft wird er die richtigen Entscheidungen für sein Leben finden. Diese beiden Bilder passen nicht zusammen, es gibt nur: entweder A oder B.
Müsste, wer noch frei sein will, sich von einer Gesellschaft abwenden, die in totaler Durchdringung der Technik immer weiter zur Unfreiheit fortschreitet?
Precht: Technikverzicht wäre aber keine Lösung. Man muss sehen, dass das Handeln wieder auf die Ebene der Politik zurückkommt und dass man das Menschenbild der Aufklärung verteidigt. Ein solcher Versuch ist ja jetzt auch die Europäische Datenschutz-Grundverordnung, mit der wir immerhin angefangen haben, den Machtkampf überhaupt erst aufzunehmen. Die Frage, ob wir unsere Daten preisgeben, ist noch nicht entschieden. Wir können sie uns noch zurückholen. Übrigens noch eine Parallele zum 19. Jahrhundert: Die Franzosen hatten die Menschenrechte erklärt, aber in den Fabriken war von diesen Rechten überhaupt keine Rede. Die musste man sich ja erst mühselig erkämpfen. Und genauso müssen wir uns jetzt unsere informationellen Rechte und unsere informationelle Selbstbestimmung zurückholen – zum Segen der Gesellschaft.
Im Buch über eine Abkehr vom massenhaften Fleischkonsum haben Sie auf einen Bewusstseinswandel gesetzt und nicht auf Steuerung durch die Politik. Hier schon. Was ist der Unterschied?
Precht: Der Unterschied ist, dass es in der Frage der Ernährung nicht um Grundrechte geht. Wer wie viel Fleisch isst, geht den Staat nichts an. Aber die Frage des Umgangs mit Daten geht den Staat ganz viel an, weil die informationelle Selbstbestimmung bei uns Grundrechtsstatus hat. Das ist genauso ein Grundrecht wie mein Wahlrecht. Und es ist die Aufgabe des Staates, die Grundrechte zu schützen.
Das bisherige Verhalten der Politiker nennen Sie das von Schlafwandlern. Ein solches Verhalten hat in der Folge von Industrialisierung und Globalisierung in den Weltkrieg geführt. Tatsächlich eine drohende Parallele?
Precht: Ja, dieses Schlafwandlerische haben wir in den vergangenen Jahren tatsächlich gehabt in der Reaktion auf die Digitalisierung. Nach dem Muster: Das kann man national nicht machen, das müsste man europäisch machen – hat man europäisch dann aber nicht hingekriegt. Denn Europa hatte ja noch viele andere Sorgen mit Griechenland, mit den Orbans, den Polen … So hat man diese Riesenbedrohung nicht wirklich ernst genommen.
Das Ende der Leistungsgesellschaft - wir müssen neu über den Wert des Menschen nachdenken
Die Digitalisierung könnte auch Menschheitsträume erfüllen, im Durchschnitt müssten Menschen nur noch drei Stunden arbeiten … Dann muss die Politik aber viel umsteuern! Sie verlangen etwa die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens von 1500 Euro im Monat – finanziert durch Mikrosteuern auf Finanzgeschäfte … Sie fordern nicht weniger als ein neues Menschenbild, für das wir die Umstände schaffen müssen.
Precht: Genau. Wir stehen vor einer grundlegende Änderung in unserer Gesellschaft im Hinblick auf die Arbeit. Wir haben uns die letzten zweihundert Jahre lang als Leistungsgesellschaft definiert. Aber in einer Welt, in der zwar nicht die Arbeit ausgeht, aber eine bestimmte Form von Arbeit verschwinden wird, wird es keine flächendeckende Beschäftigung mehr geben. Und völlig gleich, ob gleichzeitig auch neue hoch spezialisierte Berufe entstehen – wer als Busfahrer oder Bankangestellter seinen Job verliert, wird darin nicht arbeiten können. Deshalb müssen wir neu darüber nachdenken, ob wir den Wert eines Menschen an seine Erwerbsarbeit binden. Eigentlich ist das ohnehin nur ein ganz kleines Kapitel der Geschichte, das mit der ersten industriellen Revolution begann und nun mit der zweiten industriellen Revolution zu Ende geht. Auch hier müssen wir für einen Wandel philosophisch und gesellschaftlich die Weichen stellen.
Brauchen wir dazu auch einen anderen Bildungsbegriff?
Precht: Ja, unsere Schulen bereiten unsere Kinder auf eine sogenannte Leistungsgesellschaft von früher vor. Im Grunde genommen nach dem alten Prinzip: die Hauptschüler für die Handwerksberufe, die Realschüler für die Schreibstube und für das höher Qualifizierte die Gymnasiasten. Und das alles unter der Vorstellung, dass diese Leute später mal irgendwo fest angestellt arbeiten und ein Leben lang Dienst nach Vorschrift tun. Aber diese Art von Gesellschaft gibt es so in der Zukunft nicht mehr. Und deswegen ist das, was wir in den Schulen machen, Fehlausbildung von vorne bis hinten. In Zukunft muss eine Bildung stehen, die Menschen eine Autonomie gibt und die Befähigung, ihren Leidenschaften nachzugehen, sich zu entwickeln, daraus etwas zu machen, ihre Kreativität umzusetzen. Nicht eine Bildung, die ihnen die Kreativität austreibt, wie das heute in unseren Schulen fast programmatisch geschieht. Ich nenne das „Preußischen Sozialismus“: Alles gleichmachen und gleichzeitig alles disziplinieren und nach dem Vorbild des Militärs einrichten – das ist die alte Vorstellung von Schule. Und die hat in der Welt des 21. Jahrhunderts überhaupt nichts mehr verloren.
Aber nicht jeder, der nicht mehr arbeitet, wird kreativ, sondern womöglich, Sie schreiben: „aggressiv, destruktiv, depressiv“. Wie dagegen vorgehen?
Precht: Als Philosoph lernt man, mit dem Begriff „Mensch“ vorsichtig umzugehen. Denn „den Menschen“ gibt es nicht. Der alte Grieche in Athen war stolz darauf, nicht zu arbeiten – das machten etwa die Frauen und Sklaven. Und er definierte sich als derjenige, der nicht festgelegt ist, sondern sich die ganze Zeit nur um sich und seine Polis kümmern kann. Das ist eine völlig andere Vorstellung von Moral als wir sie heute haben, Leistung in unserem Sinne spielte damals überhaupt keine Rolle … Das zeigt: Der Mensch ist sehr anpassungsfähig. Es kann sein, dass wir in absehbarer Zeit wieder in einer Kultur leben, die – in mancherlei Hinsicht – eher wie das alte Griechenland funktioniert. Aber Menschen, die einmal konditioniert sind, nach gewissen Regeln und Werten zu funktionieren, erfinden sich ja nicht plötzlich neu. Und der Busfahrer, der mit 50 seinen Job verliert, der muss nicht unweigerlich sagen: Wunderbar, ich bin jetzt ein freier, griechischer Mann, ich habe ein Grundeinkommen, ich werde mich jetzt um Politik kümmern und meine Stadt schöner und gerechter machen. Sondern der wird unter Umständen nichts mit sich anzufangen wissen. Manche wandern auch nach Teneriffa aus. Andere kümmern sich um die Familie, ihren Schrebergarten … Aber es wird auch einen erheblichen Anteil von Menschen geben, die halt nichts mehr mit sich anzufangen wissen. Nur: Diese Leute, wenn sie mit 64 in Rente gehen, kriegen das gleiche Problem auch – jetzt kriegen sie’s halt 15 Jahre früher.
„Es muss erst einiges zu Bruch gehen, bis die Leute wirklich kapiert haben, was die Stunde schlägt“
Sie nennen sich einen Optimisten. Aber wie zuversichtlich sind Sie, dass wir ein Umsteuern rechtzeitig hinbekommen?
Precht: Wir kriegen das nicht rechtzeitig hin. Wir erleben jetzt erst mal die Restauration. So was wie Donald Trump und die Nationalismen. Wenn in Deutschland einige hunderttausend Leute erst mal ihre Jobs verloren haben, dann wird die AfD einen gigantischen Auftrieb kriegen. Ich glaube also nicht, dass wir das jetzt ganz organisch immer besser hinkriegen. Sondern ich glaube, dass auf dem Weg dahin einiges erst mal zu Bruch gehen muss, bis die Leute wirklich kapiert haben, was die Stunde geschlagen hat. Ich bin aber langfristig optimistisch. Ich glaube tatsächlich, dass wir die Chance haben, in 30 oder 40 Jahren in einer Gesellschaft zu leben, die noch besser ist als die jetzige. Ich sehe nicht, dass die Digitalisierung unweigerlich in eine Zeit führen muss, in der wenige Konzerne die Welt regieren, in der unsere Kinder alle aufmerksamkeitsgestört sind und sich auf nichts mehr konzentrieren können.
Die AfD ist auch Thema in unserem aktuellen Podcast. Hier können Sie reinhören:
Und, siehe „Schlafwandler“: Besteht auch die Gefahr, dass zu die Brüchen wieder zu Kriegen führen werden?
Precht: Ja. Ich glaube, es wird Kriege geben. Ablenkungskriege, die von dem großen Umbruch unserer Gesellschaften mit all den Problemen ablenken. Im Grunde genommen hat das, was da in Syrien geschieht, schon fast diesen Charakter. Zumindest was die immer größere Ausweitung des Landes zum Truppenübungsplatz angeht, auf dem dann auch noch die Franzosen irgendetwas bombardieren mussten. Und ich kann auch nicht ausschließen, dass die USA aus einem ebensolchen Grund irgendwann einmal den Iran angreifen werden. Für möglich halte ich das.
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