Es war einer dieser sonnensatten Sommerabende, viel zu heiß, um überhaupt ins Theater zu gehen, und viel zu schön, um dann auch noch ein Problemstück anzuschauen. Trotzdem war man froh, eine Karte für den Pavillon auf den Münchner Opernfestspielen ergattert zu haben, denn man wollte ihn endlich einmal live sehen, den Theaterregisseur und Performancekünstler, der diese absurden, grotesken Aktionen machte, über die die Leute sich so aufregten. Christoph Schlingensief, der als der große Provokateur des deutschen Kunstbetriebs galt, der bewundert, geschmäht und gefürchtet wurde, an dem aber keiner vorbeikam.
Christoph Schlingensief konnte große Oper, Rap und die Musik des Volkes
Und dann saß man Ende Juni 2010 zwei Stunden lang in dem stickigen, übervollen Pavillon, in dem unüberschaubar viele Akteure herumwuselten, in dem getrommelt und gepfiffen, gesungen und geschrien wurde – und war fasziniert. Da war alles drin in Schlingensiefs neuem Stück „Intolleranza II“, einer Paraphrase von Luigi Nonos gleichnamigem Musiktheater – seine Träume, seine Wut und sein Schmerz, Afrika und Europa, Kolonialismus und der Widerstand dagegen, große Oper, Rap und die Musik des Volkes, seine Erkrankung und sein Wunschtraum, das Operndorf „Remdoogo“ bei Ouagadougou in Burkina Faso.
Schlingensief war immer dabei auf der Bühne zwischen wilden Projektionen und vielen afrikanischen und europäischen Darstellern. Ein schmaler, noch jung wirkender Mann, die Haare wie Igelstacheln nach oben gebürstet, mit dunklen Augen und Strubbelbart. Er wirkte beweglich und unangestrengt, doch alle wussten: Er hat Lungenkrebs in einem lebensbedrohlichen Stadium. Trotzdem war er hundertprozentig da und ganz präsent. So war er wohl immer und auch jetzt noch in der Krankheit – er verausgabte sich bis zum letzten Energiefünkchen, war total drin in dem, was er gerade tat. Weggefährten wie Michaela Melián oder Matthias Lilienthal sprechen von seiner Lebensführung „mit Vollgas“ oder davon, das er in einer Stunde hundert Ideen produzierte; seine Frau Aino Laberenz schildert seine zwei Seiten als extrem vereinnahmend und extrem großzügig.
Schlingensief habe "die Wunder der Welt berührt"
Man konnte sich an diesem Abend jedenfalls nicht vorstellen, dass dieser Mann knapp zwei Monate später nicht mehr am Leben sein würde, gestorben am 21. August 2010. Wie miserabel es ihm ging, wie sehr er sich vor dem Sterben fürchtete und sich wünschte, dass es einen Gott gebe, der ihn auffangen würde, das hatte der 49-Jährige wenig zuvor erst in seinem „Tagebuch einer Krebserkrankung“ veröffentlicht. Titel: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“
Da hatte er erzählt, wie ihm schon 2004 bei seiner „Parsifal“-Inszenierung in Bayreuth die Ahnung gekommen war, durch diese anstrengende Auseinandersetzung mit Wagners Musik, mit den Themen Tod und Erlösung werde er Krebs bekommen. „Ich habe die Wunde der Welt berührt“, schrieb er in deutlicher Anlehnung an den leidenden Amfortas.
„Parsifal“ hatte ihn offenbar mehr mitgenommen als all die Filme und Aktionen, mit denen der Apothekersohn aus der Ruhrgebiets-Stadt Oberhausen sich seinen Ruf als Enfant terrible der Kunst, aber auch als moralische Instanz erarbeitet hatte. Im Film „Das Kettensägenmassaker“ von 1990 endet die Euphorie über die deutsche Wiedervereinigung in einem Blutbad; eine Metzgerfamilie macht den Mauerfall zum Schlachtfest. Theaterstücke wie Shakespeares „Hamlet“ oder Elfriede Jelineks „Bambiland“ bürstete er, zeitweise als Hausregisseur der Berliner Volksbühne, heftig gegen den Strich, inszenierte gern auch mit Laien und geistig behinderten Akteuren. Bei der Aktion „Bitte liebt Österreich!“ führte er den ganz normalen Rassismus der guten Bürger auf die denkbar schärfste Weise vor. In einem Container nach dem Vorbild von „Big Brother“ befanden sich (echte) Asylsuchende, das Publikum konnte abstimmen, wer abgeschoben werden sollte, und tat das eifrig.
Der Krebs wurde zum Thema seiner Aktionen
Auch mit seinen anderen Aktionen, oft mit sehr schwarzem Humor und Klamauk, mischte sich Schlingensief auf spektakuläre Weise in die aktuelle Politik ein – mit deftigen Attacken gegen Helmut Kohl und den FDP-Politiker Jürgen Möllemann oder mit der angeblichen Partei „Chance 2000“ im Bundestagswahlkampf 1998. Höhepunkt war da die Einladung an sechs Millionen Arbeitslose, im Wolfgangsee zu baden und damit den See zum Überlaufen zu bringen. An dem See verbrachte bekanntlich Kanzler Kohl meist seinen Sommerurlaub.
Großes Medieninteresse und viel Aufregung waren Schlingensief regelmäßig garantiert. Auch dann, als der Krebs gekommen war und er sich weigerte, darüber zu schweigen, vielmehr seine Krankheit zum Thema seiner Aktionen machte. Mit dem Fluxus-Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ setzte er sich mit seinem Schicksal auseinander, erwies sich erneut als Erbe von Künstlern wie Fassbinder oder Beuys. Als er zum Kurator des deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig berufen wurde, maulte zwar der Maler Gerhard Richter, dass man sich da jetzt „so einen Performer“ und keinen klassischen Künstler geholt habe.
Aber Schlingensief – über den Bettina Böhler die Doku „Schlingensief: In das Schweigen hineinschreien“ gedreht hat, die jetzt im Kino anläuft – war weit mehr als nur Performer. Mit seinem Ideenreichtum schuf er auf Bühne, Leinwand oder auch auf der Straße Kunstwerke, die sich nicht in Schubladen einordnen ließen, die sich fundamental mit der Welt auseinandersetzten, mit ihren dunklen und hellen Seiten, ihren leeren Versprechungen und erfüllenden Überraschungen. Damit war Schlingensief zeit seines Lebens ein Stachel im Fleisch der Selbstoptimierer, der Leistungs- und Machbarkeitsfanatiker, der Vereinfacher. Das von ihm inszenierte Chaos zeigte immer die andere Seite dessen, was ist. Deshalb fehlt er dieser Welt.
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