Hat die sie noch alle? Oder ist sie die, die noch alle Sinne beisammen hat? Ist sie „Predigerin“ einer „kruden neuen Welt“, die auch die Nähe zu Verschwörungszirkeln nicht scheut? Oder ist sie „eine Freiheitskämpferin“, während ihre „Kollegen nur noch unerträgliche, weichgespülte Systemlinge“ sind?
Viel differenzierter geht es offenbar nicht. Denn seitdem Susanne Kerner, 61, geboren in Hagen, wohnhaft in Hamburg, sie, die ganz Deutschland und die halbe Popwelt nun bald vier Jahrzehnte als Nena kennt, kürzlich zwei Auftritte hatte, dröhnte die (sozial-)mediale Kontroverse. Wieder, muss man sagen. Und sich alles noch mal vergegenwärtigen, um zu verstehen.
Freiheitskämpferin? Nena dankt den Corona-Demonstranten in Kassel
Da war im Oktober ein Post auf Instagram: „Ich habe meinen gesunden Menschenverstand, der die Informationen und die Panikmache, die von außen auf uns einströmen, in alle Einzelteile zerlegt.“ So sei es ihr möglich, sich „nicht hypnotisiert von Angst in die Dunkelheit ziehen zu lassen“. Und im März ein Video auf demselben Kanal mit dem Titel „Danke Kassel“, nachdem dort Tausende gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert hatten. Nenas Management betonte, sie zähle sich nicht zum Lager der Corona-Leugner: „Sie stellt sich auf keine Seite, sondern hat eine Meinung und Gefühle, denen sie in erster Linie in ihrer Musik Ausdruck verleiht.“
Und nun machten Zitate und Szenen von einem Nena-Konzert in Bergen auf der Insel Rügen die Runde. Im Juli hatte ein Veranstalter ihren Auftritt in Berlin Schönefeld noch vor der Zugabe beendet, nachdem sich Nena zuvor über die Hygienevorschriften geäußert hatte: „Mir wird gedroht, (...) dass sie die Show abbrechen, weil ihr nicht in eure (...) Boxen geht.“ Und: „I don’t fucking care!“ Und: „Ich überlasse es in eurer Verantwortung, ob ihr das tut oder nicht.“ Dann wurden Konzerte im hessischen Wetzlar und im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg abgesagt. Jetzt also vor zehn Tagen zurück auf der Bühne, 1300 Konzertgäste; solange sie nicht direkt vor der Bühne tanzen wollten, mussten sie weder negativ auf Corona getestet noch geimpft oder genesen sein, Maskenpflicht war nur auf Toiletten – und Nena bekundend hoch erfreut über diese Freiheiten und auch mal durch die Menge tanzend: „Ja, jeder kann machen, was er will!“
Aber nicht nur das. Sie sagte auch: „Ich kann fühlen, dass ihr wisst, dass das, was ich gesagt hab, das ist, woran ich glaube. Und dass ich keinen, keinen Millimeter zurückrudern werde, weil der positive Wandel nicht aufzuhalten ist.“ Sie sprach von einer Zeitwende, mit dem R.E.M.-Zitat „It’s the End of the World as We Know It“, fügte hinzu: „Und das ist das, was in der neuen Welt wieder möglich ist.“
Nena feiert eine "Party für Ungeimpfte" am Katzenbachsee
Letzte Station: Bilder von Nena beim Besuch einer „Q-Sommernachtstraum“ betitelten „Party für Ungeimpfte“ am Katzenbachsee in Baden-Württemberg. Sie wurde herzlich willkommen geheißen vom Organisator Friedemann Mack, der sagte: „Lasst uns einfach feiern, alles ist gut. Und lasst uns dankbar sein, dass uns auch eine Nena auf dem richtigen Weg in die neue Welt mit unterstützt. Und das wird megageil, das sag ich euch.“ Nena sagte nur: „Hallo ihr Süßen! Schön, bei euch zu sein!“ Das ist auf Videos zu sehen, die die Plattform „Filderstadt Nazifrei“ online gestellt hat, Medien wie die Frankfurter Rundschau haben als Gäste weiter identifiziert offene Corona-Leugner, bekennende Reichsbürger. Veranstalter Mack betreibt einen Telegram-Kanal mit 55.000 Followern und verweist auch auf einen gleichnamigen Shop, in dem etwa Kleidungsstücke mit Aufdrucken wie „Ungeimpft“ verkauft werden. Oder „QAnon“, eine teils radikale Bewegung von Verschwörungsmystikern und deren Q wohl auch den „Q-Sommernachtstraum“ betitelte und die vom „Qlobal Change“ zu einer neuen Welt kündet. Oder, neuerdings auch im Shop: ein Shirt mit „Danke, Nena“.
Jubel für Nena in Online-Kommentaren
Und während einerseits nun Häme und Kritik auf die Sängerin einprasseln, der Spiegel anlässlich des Rügenkonzerts von der „Predigerin einer kruden neuen Welt“ schrieb, bejubeln sie andererseits Fans in Online-Kommentaren als „Freiheitskämpferin“ oder: „Klasse Nena! Bleib stark und standhaft für alle Klardenker/Überhauptdenker.“ – „Gegen den Faschismus. So sieht friedlich aus.“ – „War nie ein Fan, aber jetzt bin ich einer der größten!“ – „Ja die neue Welt wird fantastisch. Sie ist schon am Entstehen und wir sind mittendrin!“ – „Rückgrat, geradlinig und ehrlich. So ist sie und war sie immer. Aber, von den korrupten Polit- und Pharma-Marionetten und Extrem-Lügenpresse nicht geliebt.“ – „Sie wird niemals Corona bekommen, denn ihre Kommunikation ist stimmig! Corona hat nämlich was mit falscher Kommunikation zu tun.“ – „Sie soll mit Xaver zusammen auftreten, das ist Power im Doppelpack!!“ – „Danke Nena, Danke Helge … mehr mutige Künstler und Menschen könnten dem Wahn ein Ende bereiten!“ Nur zum Beispiel.
Xaver meint übrigens Xavier Naidoo, der ähnlich mit Auftreten und Aussagen aneckte, der andere ist Helge Schneider, der sein Konzert genervt von den Corona-Maßnahmen abbrach. Wächst da was, das mehr als Unmut über die Folgen der Pandemie fürs eigene Schaffen artikuliert? Künstlerisches Quer, das nach der Schauspiel-Satire „#allesdichtmachen“ jetzt den Pop durchdringt und die gesellschaftliche Kontroverse anheizt? Die nur noch Dafür oder Dagegen kennt?
Differenzierung hilft. Denn tatsächlich ist ja der Rundum-Leugner-Verdacht bei jeder Form von Maßnahmen-Kritik ebenso blind für die Wirklichkeit wie der Rundum-Unterjochungs-Verdacht bei jeder Form von Freiheitsbeschränkung. Und der Fall Nena kann dabei symptomatisch stehen für das Markieren dreier Probleme.
Popstars predigen Freiheit und Liebe - aber sollten sie das überhaupt?
Das erste steckt in der Rolle der Popstars. Wohl hatte Element-of-Crime-Sänger Sven Regener recht, als er im Gespräch mit unserer Redaktion sagte, diese sollten sich eigentlich in dieser Rolle gar nicht zu Politik äußern. Denn das, was sie künstlerisch können, weil die Leute sie auf der Bühne sehen wollen, hat mit besonderer politischer Kompetenz nichts zu tun; und wenn sie ihre privaten Bekenntnisse dann in Maximalverstärkung hinausposaunen, vermischen sich mitunter auch zum Missgefühl der Fans die Sphären. Was freilich nichts daran ändert, dass die großen und kleinen Bonos dieser Welt in Stadthallen und Stadien Freiheit und Liebe predigen.
Das führt zum Zweiten: der Stellung zum Zeitgeist. Denn während in den Wurzeln des Pop ja tatsächlich eine strittige Form von Revolte gegen eine illiberal empfundene Gesellschaft steckte, wurde daraus im Wohlstandsliberalismus oft ein bloß noch wohlfeiles Weltrettungslagerfeuerwerk. Was wieder aneckt, sind seit einigen Jahren nun Popstars, die in der großen Werte-Einigkeit stören – und damit noch auf eine hitzige Moralisierung in den (sozial-)medialen Debatten treffen. Gerade bei Corona und vor allem bei Nena ist nun das Frappierende, dass hier wie einst im Namen der Freiheit und der Liebe angeeckt wird – aber damit statt links eben rechts verbunden, und bei Letzterem das „-radikal“ sowieso immer mitgedacht wird.
Was meint Nena eigentlich mit ihrer neuen Welt?
Aber – und das ist das Dritte – die Form ist diffus. Wie Naidoo oder ein Andreas Gabalier: Nena raunt nur. Was meint sie mit ihrer neuen Welt eigentlich? Findet sie, man sollte alle Corona-Beschränkungen aufheben? Teilt sie inhaltlich etwas mit der Quer- oder mit der Q-Bewegung? Ohne klare Position kann es keinen argumentativen Streit, sondern nur Stimmung dafür und dagegen geben. Wenn Pop auf diese Weise Politik ist, dann ist Politik nichts als schlechter Pop: Reflexmassage im Menschelnden. Das ist wahrscheinlich sogar clever für die Stars selbst, eigentlich schade als Beförderung der ohnehin verbreiteten Tendenzen zur Undifferenziertheit – und zum Glück eigentlich ganz egal. Denn mancher wird nun weniger Fan sein von Nena, mancher jetzt Fan werden – aber Meinung wird es dabei keine einzige ändern, nur alle bestätigen.