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Nachruf: Der Mann mit dem Füllhorn - Saxofonist Lee Konitz an Covid-19 gestorben

Nachruf

Der Mann mit dem Füllhorn - Saxofonist Lee Konitz an Covid-19 gestorben

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    Lee Konitz im Jahr 2005 beim Kemptener Jazzfrühling. Der Saxofonist ist mit 92 Jahren an Covid-19 gestorben.
    Lee Konitz im Jahr 2005 beim Kemptener Jazzfrühling. Der Saxofonist ist mit 92 Jahren an Covid-19 gestorben. Foto: Hermann Ernst

    Es scheint, als würde Corona eine tiefe Schneise in den alten, den klassischen Jazz reißen und die Generation derjenigen, die dieser Musik erst zu Anerkennung und Popularität verhalfen, nach und nach ausradieren. Nun ist auch der legendäre amerikanische Altsaxofonist Lee Konitz in einem New Yorker Krankenhaus am Mittwoch an den Folgen von Covid-19 gestorben. Das teilte sein Sohn Josh mit.

    Der Tod von Konitz, der 92 Jahre alt wurde, fällt natürlich in das allseits bekannte Erklärungsschema „Risikogruppe“. Dennoch wirft er nicht zum ersten Mal Fragen auf, warum ältere Menschen in den USA und speziell solche, die sich unschätzbare Verdienste für die Kultur ihres Landes erworben haben, nicht besser geschützt werden. Vieles kann im Nachgang nur mit Bitterkeit rekapituliert werden, auch die mangelnde Wertschätzung für den knorrigen weißhaarigen Musiker in seinen letzten Jahren, in denen er rastlos zwischen Amerika, Polen und Deutschland hin- und her pendelte. Hierzulande kam es noch vor, dass sie ihn feierten, wie zum Beispiel im Birdland-Jazzclub in Neuburg, wo Konitz ein Dauergast war. „Wir verlieren einen echten Freund, und ich mein persönliches Idol“ zeigte sich Birdland-Chef Manfred Rehm gestern bestürzt.

    Immer wieder kam Lee Konitz in den Birdland Jazzclub

    Die Konzerte in Neuburg – es mögen im Laufe der Jahre an die 20 gewesen sein, das letzte im November 2017 –, aber auch andernorts in der Region waren stets Feste der Improvisationskultur. Würdevoll zelebrierte der Meister am Altsaxofon eine Kunstform, die er im Laufe von sieben Jahrzehnten ganz entscheidend mit prägte. Bei Lee Konitz trugen zwar die Titel fast immer dieselben Namen, sie klangen aber jedes Mal anders; in punkto Tempo, Harmonien, Variationen und vor allem aufgrund seines immensen solistischen Einfallsreichtums.

    Kaum einer verstand sich so meisterhaft in der Kunst der Improvisation wie Lee Konitz. Er nannte es „Instant Composing“, das Komponieren im Augenblick des Spielens. Der 1927 in Chicago geborene Musiker erlangte schon in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre Berühmtheit, als er einen Kontrapunkt zu Charlie Parkers lavaartigen Bebop-Läufen setzen wollte. Ein erstes Ausrufezeichen gelang ihm durch die Mitwirkung bei den Sessions zu Miles Davis’ epochalem Werk „Birth Of The Cool“ 1949. Hier kamen Konitz’ Sound sowie sein Konzept der motivischen Improvisation bestens zur Geltung. „Cool“ im Sinne von kühl oder gar unterkühlt war seine Spielweise nie. Sein niemals versiegendes Füllhorn an Ideen rührte vielmehr von den komplexen Übungen her, die der Pianist Lennie Tristano seinen Mitmusikern auferlegt hatte und sich auf dem schmalen Grat zwischen Barock und Freejazz bewegte.

    "Thingin'" lautete Lee Konitz' Zauberformel

    In Tristanos Umkreis bewegte sich Konitz von Anfang an. Dort wurden immer wieder Inventionen von Johann Sebastian Bach als Material herangezogen. Wenn man dann auf dieser Grundlage wieder über Standards wie „All The Things You Are“ improvisierte, dann klang das in der Tat nicht mehr nach Parker und Bebop. Bis zum Ende seines Lebens vermochte er den Harmoniefolgen dieses Standards immer wieder neue Aspekte abzugewinnen und nannte seine unzähligen Versionen irgendwann mal augenzwinkernd nur noch „Thingin’“ – was für Konitz zwei elementare Werte vereinte: thinking (Denken) und singing (Singen). Seine fließenden Linien besaßen stets sangliche Qualität.

    Bis zuletzt blieb Konitz zugänglich, offen, interessiert und am Puls der Zeit. Er spielte mit Musikern, die seine Enkel oder gar Urenkel hätten sein könnten. Nicht nur sie werden ihn schmerzlich vermissen.

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