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Musik: Ein Genie und ein Kotzbrocken namens Keith Jarrett

Musik

Ein Genie und ein Kotzbrocken namens Keith Jarrett

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    Einer der größten Jazzpianisten: Keith Jarrett wird 75 Jahre alt. Anders als noch vor fünf Jahren ist es nun still um ihn geworden.
    Einer der größten Jazzpianisten: Keith Jarrett wird 75 Jahre alt. Anders als noch vor fünf Jahren ist es nun still um ihn geworden. Foto: Patrick Hinely, ECM

    Seltsam ruhig ist es. Keine Kerzen, kein Kuchen, keine Gratulationscour, wie es für einen wie ihn eigentlich standesgemäß wäre, keine Interviews. Und vor allem: keine Konzerte. Noch beim Siebzigsten war das völlig anders. Seine Plattenfirma ECM überflutete die Fans mit je einem Jazz- und einem klassischen Album sowie einem Box-Set. Außerdem erschienen eine Biografie und ein Fotobuch, gewaltige Features in Fachblättern und Nachrichtenmagazinen und Tageszeitungen, im Radio gab es Sondersendungen, teils sogar über mehrere Stunden. All das, obwohl der Protagonist selbst mal erklärt hatte, dass ihm Geburtstage eigentlich nichts bedeuten würden ("I don’t believe in birthdays!"). Und nicht zu vergessen: Der Neu-Senior zeigte sich damals live-haftig in seiner ganzen Pracht auf der Bühne, und das gleich mehrmals.

    Natürlich lebt Keith Jarrett noch. Nur wie, das wissen kurz vor seinem 75. Geburtstag am morgigen Freitag allenfalls eine Handvoll Menschen. Seit März 2018 ist der exzentrische Tasten-Maniac, einer der größten Musiker der Gegenwart, abgetaucht. Aus gesundheitlichen Gründen, heißt es ebenso einsilbig wie sibyllinisch von seinem in Gräfelfing bei München ansässigen Label. Das lässt allen Raum für Spekulationen und weckt düstere Erinnerungen an Jarretts erste karrieregefährdende Auszeit Mitte der 1990er. Damals wurde das fragile Alphatier durch das Chronische Erschöpfungssyndrom (CFS) völlig aus der Bahn geworfen. Auch damals: Rätselraten.

    Erst nach seiner triumphalen Rückkehr erfuhr das geneigte Hörvolk vom Ausmaß der Krise. Nun endet Jarretts Karriereabschnitt Nummer drei – nach seiner Anfangszeit bei Art Blakey, Charles Lloyd und Miles Davis, der ersten ECM-Phase ab 1972, als er mit ausgedehnten Solokonzerten begann und sich mit Leuchttürmen wie Jan Garbarek, Charlie Haden oder Paul Motian verbündete, und seinem endgültigen Aufstieg in den Olymp, auch im revolutionären Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette – abermals mit turmhohen Fragezeichen. Immerhin erklärt Christian Stolberg, der Pressesprecher von ECM, dass "auf absehbare Zeit" nicht mehr mit Konzerten zu rechnen sei. Wer einen unmittelbaren Bezug zwischen dieser Botschaft und seinem Lebensalter herstellt, der ahnt wohl, wie die Chancen für ein erneutes Comebacks einzuschätzen sein dürften.

    Keith Jarrett bunkert zu Hause reichlich Material

    Immerhin gibt es noch reichlich Material, das Jarrett zuhause bunkert, auf seiner Farm in Oxford in New Jersey, zwei Fahrstunden von Manhattan und der geliebten Carnegie Hall entfernt. Jedes seiner Konzerte, die in den allermeisten Fällen einem aufwühlenden Seelenstriptease glichen, hat der Pianist im letzten Vierteljahrhundert aufzeichnen lassen. "Wofür ich bezahlt werde, ist in die Tiefe zu gehen", sagte er der New York Times, "wie im Tauchanzug mit Maske, tief und immer tiefer". Er allein entscheidet nach einem nicht einmal für ECM-Boss und Freund Manfred Eicher ergründlichen Algorithmus, wann welcher "Tauchgang" erscheint – zuletzt war es mit "Munich 2016" das Dokument seiner Rückkehr in die bayerische Landeshauptstadt.

    Nicht zu hören sind darauf seine obligatorischen Ausraster, Flüche, Maßregelungen und Abbruchsdrohungen, die immer dann zum Jarrettschen Ritual gehörten, wenn Unruhe im Publikum aufkam, jemand zu husten oder zu fotografieren wagte. Auch daran hat man sich längst gewöhnt, ja man vermisst es inzwischen sogar. Denn der geniale Superstar und unerträgliche Kotzbrocken in Personalunion belohnte die Schar devoter Kultur-Masochisten rund um den Globus reichlich für ihr Leiden. Ein jedes Mal entblößte er sich bis aufs intimste Detail und gewährte ihnen Zugang zu seiner aktuellen Gefühlswelt.

    Wie man anderen beim Denken zusehen konnte, so konnte man Jarrett beim Erfinden und Formen von Musikstücken beobachten. Wenn die emotionale Farbe im Saal stimmte, wenn sein zum Stillsitzen verdammten Bewunderer bereit waren, ihm zu folgen, ganz gleich, welche dunklen und lichten Räume er gerade durchschritt, dann kannten Kreativität und Fantasie keine Grenzen. Dann improvisierte er vom ersten Anschlag bis zum Applaus, manchmal ohne ein einziges Mal auszusetzen. Und da sich Jarrett nie wiederholte, war jedes Konzert ein neues Werk, quasi ein Unikat.

    Auf das "Köln Concert" durfte man ihn nie ansprechen

    Zum lebenslangen Stolperstein für Außenstehende gerät selbst heute noch das legendäre "Köln Concert". Bitte nie darauf ansprechen, lautete ein gut gemeinter Ratschlag von Eicher, wenn man – was selten genug vorkam – die Gnade eines Interviewtermins bei dem Pianogott erfuhr. Man könnte von einer Sekunde auf die andere in Ungnade fallen! Seinen langjährigen Vertrauten und Biografen Wolfgang Sander strafte er mit Missachtung, als dieser begann, vom "Köln Concert" zu schwärmen, von den kreisenden Figuren der linken Hand, den Tontrauben darüber und der famosen Brücke, die Jarrett am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper ohne Vorsatz baute. Bis heute verabscheut der divenhafte Amerikaner die Platte, die ihm zu Weltruhm verhalf und mit über vier Millionen verkaufter Einheiten als die bestverkaufte solistische Klavieraufnahme der Welt gilt. Weil sie auf einem maroden Flügel entstand, der so klapprig klang, dass Jarrett gar nicht darauf hatte spielen wollen. Das ärgert ihn nach wie vor, weil sein künstlerisches Lebenswerk viel lieber durch andere Aufnahmen manifestiert sein sollte. Dass er dennoch die weitere Verbreitung der Jahrhundertaufnahme nie unterband, ist der vielleicht interessanteste Widerspruch in einem zumindest für Außenstehende ambivalenten Leben.

    Natürlich darf jeder am 8. Mai dennoch das "Köln Concert" auflegen, die harmlos winzige Keimzelle, aus der sich dann wie ein lebendes Origami eine Stunde traumhafte Musik entfaltet. Wer will, dass sich aber auch Keith Jarrett freut, der greift vielleicht zu "La Fenice" von 2018, zu "Solo Concerts Bremen/Lausanne" von 1974 oder zu der fulminanten Trio-Lawine "At The Blue Note" von 1995. Im Prinzip eignen sich alle seine Alben, um ihm, dem wahnsinnig-widerborstig-wunderbaren Pianisten, zum Geburtstag die gebührende Referenz zu erweisen.

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