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Musik: Brad Mehldau, das Gesicht des heutigen Jazz

Musik

Brad Mehldau, das Gesicht des heutigen Jazz

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    Auf den Tasten kombiniert er Schönheit und Energie: Pianist Brad Mehldau.
    Auf den Tasten kombiniert er Schönheit und Energie: Pianist Brad Mehldau. Foto: Michael Wilson

    Es müssen viele nette Szenen gewesen sein, die sich da in der Küche abspielten. Die Familie sitzt um einen Holztisch, ein Strauß Feldblumen und ein Kaffeebecher ohne Henkel ziehen die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, und man ahnt, welch ein Gewusel es hinter den Bildrändern des Plattencovers gegeben hat. Drei Kinder freuen sich, dass Papa und Mama endlich mal wieder Zeit für sie haben. Es gibt Spiele, gemeinsame Mahlzeiten und Hausaufgaben, vielleicht sogar Gesang. Die häusliche Quarantäne als Weg aus der inneren Krise, obwohl alle Beteiligten 24 Stunden aufeinandersitzen.

    Brad Mehldau hat zumindest diesen Teil des Lockdowns hörbar gut überstanden. Als sich im März die Türen der Konzertsäle schlossen, da befand sich der amerikanische Pianist gerade mit seinem Trio auf Europa-Tournee. Wie viele andere amerikanische Musiker, die im Ausland die Horrornachrichten aus dem Corona-Hotspot New York hörten, kehrte der gefeierte Tastenvirtuose nicht in seine Heimat zurück, sondern suchte Unterschlupf bei seiner Familie, die in der Nähe von Amsterdam lebt. In den Vorzeichen dieses erweiterten Hausarrestes entstand das Soloprojekt „April 2020“ (Nonesuch/Warner), zunächst als limitiertes, nummeriertes und signiertes Vinyl-Album, dessen Erlös Mehldau zu 100 Prozent der „Jazz Foundation of America’s Covid-19 Musicians’ Emergency Fund“ zukommen lässt und dem in Kürze auch eine CD folgen soll.

    Mehldau, der Pianist mit der spannendsten Perspektive

    Es sind Schnappschüsse eines markanten Lebensabschnitts, wie immer Spiegelbilder seiner Seele, Gedanken, Empfindungen, ungewohnt, mitunter bedrohlich, aber allem Anschein nach nicht völlig unangenehm. Eine Suite aus zwölf Skizzen, die Titel wie „Keeping Distance“, „Waiting“ oder „In The Kitchen“ tragen. Als Coda fügt er die wunderbar adaptierten Fremdkompositionen „Don’t Let It Bring You Down“ von Neil Young, Billy Joels „New York State Of Mind“ und Chet Bakers „Look For Silver Lining“ an. Und dabei wird mit einem Mal klar: Nach dem krankheitsbedingten Rückzug von Keith Jarrett ist Brad Mehldau inzwischen das Gesicht des Jazz, der Pianist mit dem größten Potenzial, der interessantesten Entwicklung und der spannendsten Perspektive.

    Gut möglich, dass er seinen 50. Geburtstag an diesem Sonntag immer noch in der holländischen Tiefebene verbringt. Es macht ja durchaus Spaß, auch mal wegzukommen vom Nimbus des ewig getriebenen Wunderkindes und nur noch ein Klavier spielender Normalo sein zu dürfen. Denn Mehldau war schon in jungen Jahren fame; ein hochtalentierter, neugieriger Künstler, der an sich, aber auch an andere – Jarrett lässt grüßen – fast übermenschliche Ansprüche stellte. Es gibt in der Tat eine Menge Parallelen zwischen dem manischen Genie aus Allentown/Pennsylvania, das vergangenen Mai in aller Abgeschiedenheit seinen 75. Geburtstag feierte, und dem um ein Vierteljahrhundert jüngeren Kollegen aus Jacksonville/Florida. Die Anschlagskultur, die Fähigkeit, aus dem Nichts heraus Improvisationen von geradezu betörender Schönheit und berstender Energie zu erschaffen, die Sensitivität und Verletzlichkeit, aber auch den Willen, gegen den Strom zu schwimmen – um sich dann irgendwann doch wieder von ihm tragen zu lassen.

    Der Pianist bei der Arbeit.
    Der Pianist bei der Arbeit. Foto: David Bazemore/Warner

    Mehldau jedoch gelang es, aus dem Elfenbeinturm der gigantischen Erwartungen zu entkommen. Anfang der 1990er Jahre eroberte er als Frischling den von „Young Lions“ überlaufenen Jazz im Sturm. Gebückt und mit geschlossenen Augen vor dem Flügel kauernd, reanimierte er zunächst in der Band von Joshua Redman, dann mit Pat Metheny, Charlie Haden oder Wayne Shorter verblasste spirituelle Werte. Kein Jazzer spielte je derart akzentuiert, derart intim.

    Mehldau hat keine Scheu vor Grenzüberschreitung

    Brad Mehldau hielt dem Druck anfangs nicht stand, suchte Zuflucht in Drogen, stand eine Zeit lang permanent am Abgrund, erwies sich aber gerade in diesen Phasen als Stehaufmännchen mit Nehmerqualitäten. Dabei half ihm auch sein brillanter Kopf, der pausenlos aberwitzige musikalische Fantasien gebar, die sich weit außerhalb aller Genregrenzen bewegten. Er traf sich mit Persönlichkeiten und Ensembles der klassischen Musik, begleitete Stummfilme, definierte die Kunst des Pianotrios mit dem Kontrabassisten Larry Grenadier und dem Schlagzeuger Jeff Ballard durch seine legendäre CD-Reihe „The Art Of The Trio“ völlig neu, bezog dezidiert politisch Stellung mit seinem Album „Finding Gabriel“, lotete die eigenen Grenzen in Abenteuern mit dem Mandolinisten Chris Thile, großen Orchestern sowie Exkursen durch Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ aus.

    Stilistische Beweglichkeit, das kreative Querdenken zwischen Schubert und Brahms, Peterson und Coltrane, Radiohead und den Beatles sind zu Mehldaus Markenzeichen geworden. Ein Wort scheint all diese Projekte zu verbinden: Exzellenz. Für einen wie Mehldau bedeutete dies freilich nie, sich von seinen Fans zu entfernen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Gemessen an den Besucherzahlen seiner Konzerte darf man ihn mit Fug und Recht als eine der rar gewordenen Lichtgestalten der Szene bezeichnen, die heute ein Publikum erreicht, das keineswegs mehr ausschließlich Jazz-Liebhaber umfasst.

    Bleibt nur die Frage: Wann darf er endlich wieder auf die Bühne? Die Kinder können das Geklimper zu Hause wahrscheinlich längst nicht mehr hören.

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