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Medizingeschichte: Als aus Irrenhäusern Anstalten wurden - etwa in Irsee

Medizingeschichte

Als aus Irrenhäusern Anstalten wurden - etwa in Irsee

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    Zwangshandschuhe, wie sie früher Mitte des 19. Jahrhunderts noch üblich waren bei der Behandlung von Menschen mit psychischen Krankheiten.
    Zwangshandschuhe, wie sie früher Mitte des 19. Jahrhunderts noch üblich waren bei der Behandlung von Menschen mit psychischen Krankheiten. Foto: Frank Mihm, Psychiatriemuseum Haina

    Noch vor der industriellen Gründerzeit rollte eine andere Gründungswelle durch Bayern – ebenfalls verbunden mit großen Zukunftshoffnungen. Das Königreich wollte in der Betreuung psychisch Kranker zu den fortschrittlicheren Nachbarstaaten im Reich und in Europa aufschließen. Statt der auch Anfang des 19. Jahrhunderts vielerorts noch mittelalterlich anmutenden, dezentralen Verwahrung von „Irren“ sollten in allen Bezirken des Königreichs, damals noch „Kreise“ genannt, „moderne“ Anstalten für die Betreuung und Therapie eingerichtet werden.

    Nach einem ambitionierten Neubau in der Universitätsstadt Erlangen folgte 1849 als zweite „Kreis-Irrenanstalt“ in Bayern die Einrichtung im ehemaligen Kloster Irsee bei Kaufbeuren. Wie in deren Frühzeit Behandlung und Alltag der Patienten ausgesehen haben, hat der Historiker Gerald Dobler fundiert, vor allem aber auch gestützt auf die bisher wenig erschlossene Quelle der Krankenakten aufgearbeitet. Entstanden ist daraus sein inzwischen vierter Band zur Geschichte der Anstalt Irsee und ihrer ab 1876 neu errichteten Nachfolge-Einrichtung in Kaufbeuren.

    1849 bis 1876 – diese ersten rund drei Jahrzehnte der institutionalisierten Psychiatrie im Allgäu, in Bayern und weit darüber hinaus, haben mit einer enormen Aufbruchsstimmung“ begonnen. Vielen Vertretern dieser um 1850 auch in Forschung und Lehre noch in den Kinderschuhen steckenden medizinischen Disziplin hofften, „am Beginn einer wunderbaren Entwicklung in der Versorgung der psychisch Kranken zu stehen“, schreibt Dobler. Doch die Behörden knauserten bei der finanziellen Ausstattung der „Kreis-Irrenanstalten“, und das Augenmerk der Obrigkeit lag nach wie vor mehr auf einer ordnungsgemäßen Verwaltung der Einrichtungen und ihrer Insassen als auf den medizinischen Belangen.

    Die Überfüllung machte die Arbeit in der frühen Psychiatrie Irsee schwierig

    Fixierungen wie Fesseln und Zwangshandschuhe (oben), Zwangsjacken (u. links) und Zwangsstühle (u. rechts) gehörten bis ins 19. Jahrhundert zur üblichen Behandlung von Psychiatriepatienten.
    Fixierungen wie Fesseln und Zwangshandschuhe (oben), Zwangsjacken (u. links) und Zwangsstühle (u. rechts) gehörten bis ins 19. Jahrhundert zur üblichen Behandlung von Psychiatriepatienten.

    Davon zeugt auch, dass – wie in Irsee – die Anstalten zumeist in säkularisierten Klöstern und nicht mehr benötigten Schlössern statt in zweckmäßigen Neubauten eingerichtet wurden. Zusätzlich machten die gemeinsame Unterbringung von Patienten mit ganz unterschiedlichen Leiden bis hin zur Verwahrung von psychisch auffälligen Straftätern, die deutlich unterschiedliche Behandlung von Patienten höheren Standes und/oder Vermögens vor allem aber die bald nach der Gründung eintretende Überfüllung die Arbeit der leitenden Ärzte schwierig.

    In Irsee war dies zunächst Friedrich Wilhelm Hagen (1814 bis 1888), dessen Wirken geradezu beispielhaft die Ambivalenz der Psychiatrie dieser Zeit zum Ausdruck bringt. Hagen, der in Erlangen studiert hatte, zählte zu den bedeutendsten deutschen Psychiatern seiner Zeit. 1886 wurde er in das erlesene Expertengremium berufen, das über die Entmündigung König Ludwigs II. zu entscheiden hatte. Hagen publizierte ausführlich in seinem Fachgebiet und mahnte in seinen Schriften immer wieder organisatorische und therapeutische Verbesserungen in den Anstalten an, pochte auf einen humaneren Umgang mit den Patienten.

    In Patientenakten von Irsee ist vom Abduschen mit kaltem Wasser die Rede

    Doblers Analyse der praktischen Arbeit Hagens in Irsee skizziert dagegen ein anderes Bild – auch wenn anhand der Auswertung einer Handvoll Krankenakten sicher noch kein abschließendes Urteil gefällt werden kann. Er sei in seinen Behandlungsmethoden noch stark in früheren Zeiten und Praktiken verhaftet gewesen „und hatte offensichtlich keine Bedenken bei der Anwendung auch damals leicht erkennbarer grausamer Methoden, auch wenn diese durch die damalige Psychiatrietheorie gedeckt waren“.

    In den Patientenakten ist immer wieder vom Abduschen mit kaltem Wasser, der Isolierung in „Gitterzimmern“, vom Einsatz von Zwangsjacken oder auch von der teilweise tage- und wochenlangen Fixierung in „Zwangsstühlen“ und „Zwangsbetten“ die Rede – und zwar nicht nur zum Zwecke der „Therapie“ oder zum Schutz des Personals und der Mitinsassen, sondern „auch gezielt zur Disziplinierung“. Zu den medikamentösen Behandlungsformen unter Hagen zählte zudem auch das Einreiben des Kopfes von Patienten mit „Brechweinsteinsalbe“. Dies erzeugte eiternde Ausschläge und sollte – antiken Medizintheorien folgend – den Abfluss „schädlicher Säfte“ fördern.

    Doch die Aufzeichnungen der Anstaltsleiter und die vielen weiteren Quellen, die Dobler gesichtet hat, erzählen nicht nur von den Leiden der Patienten und den Schwierigkeiten des Personals. So ist beispielsweise vermerkt, dass die Irseer Anstalt stets einen Lehrer beschäftigte, der nicht für einen elementaren Unterricht der geeigneten Patienten, sondern auch für das teilweise rege Musikleben in der Einrichtung verantwortlich war. Es wird von Zeichenunterricht berichtet, von Faschingsbällen, geselligen Spaziergängen und dem Bemühen, den Patienten durch angemessene Arbeit Beschäftigung, Struktur und im Idealfall eine Verbesserung ihres psychischen Zustandes zu verschaffen.

    Im Vergleich war die frühe Psychiatrie in Irsee noch vorbildlich

    Das gilt umso mehr für die Amtszeit von Hagens Nachfolger Johann Michael Kiderle (1821 bis 1890). Der wenige Kilometer von Irsee entfernt geborene Mediziner und Philosoph tat sich trotz seines weltläufigen Studiums in der Fachwelt weniger hervor. Dafür setzte er die neuen Erkenntnisse und Bestrebungen in der Anstaltspsychiatrie so gut es in seiner unterfinanzierten und durchweg überfüllten Einrichtung möglich war, um. Etwa das aus England eingeführte „Non-restraint-System“, bei dem auf die Fesselung und Fixierung von Patienten weitgehend verzichtet wird.

    Auch Medikamente ließ Kiderle nur zurückhaltend verabreichen. Für ihn war vor allem die Anstalt selbst, ihr geregelter Tagesablauf, ihr geschützter Raum, ihr sensibilisiertes Personal „ein Universalmittel“ zur Heilung. Eine zentrale These des Buches, die Dobler nicht umsonst als Titel seiner Untersuchung gewählt hat und die durch einen Gastbeitrag der Heidelberger Medizinhistorikerin Maike Rotzoll aus einem umfassenderen historischen Blickwinkel heraus gestützt wird. Auch im Vergleich zu damals in akademischen Kreisen noch als vorbildlich angesehenen Anstalten „kann die Behandlung in Irsee sowohl unter Hagen als auch unter Kiderle als weit humaner angesprochen werden“, lautet ein Resümee der Untersuchung.

    Letztere Anstaltsleiter lässt in seinen Schriften im Übrigen immer wieder deutlich durchblicken, von welchen Zweifeln und Unsicherheiten auch führende Vertreter dieser damals noch jungen medizinischen Sparte geplagt wurden, wenn es um Ursache und Wirkung von psychischen Erkrankungen sowie die Frage nach den richtigen Therapien ging. Fragestellungen, die trotz aller Fortschritte in der Psychiatrie seit Mitte des 19. Jahrhundert zeitlos aktuell sind – umso mehr, wenn man die Krankenmord-Exzesse in der Anstalt Kaufbeuren-Irsee knapp 100 Jahre nach ihrer Gründung mit im Blick hat.

    Gerald Dobler: „...es muß deshalb die Anstalt selbst in gewissem Sinne als ein Universalmittel bezeichnet werden.“ Theorie und Praxis der Behandlung in der psychiatrischen Anstalt Irsee zwischen 1849 und 1876. Grizeto Verlag, 184 S., 13,80 Euro

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