Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder.
Dass dieses Sprichwort zumindest Kokolores, wenn nicht gar grober Unfug sein kann, weiß jeder, der es wissen will. Musikbegeisterte und machtgierig-rücksichtslose Menschen gab es zu allen Zeiten. Und doch wirkt jetzt erschreckend, dass nach offensichtlich gut begründeten Missbrauchsvorwürfen in der Filmbranche (#MeToo) zunehmend auch Missbrauchsvorwürfe in der Klassikmusik-Branche laut werden – und Konsequenzen zeigen.
Das Erschrecken speist sich aus der Diskrepanz zwischen anscheinend „gottgegebenem“ Talent und Künstlertum einerseits, mutmaßlicher, animalisch gesteuerter Straftat andererseits. Das Anhimmeln aufgrund von Autorität und Können, auch Schüler-, also Abhängigkeitsverhältnisse können schamlos ausgenutzt werden – in jedweder Branche.
Concertgebouw Amsterdam entlässt seinen Chefdirigenten Daniele Gatti
Am Donnerstag nun wurde der fünfte Fall binnen zweieinhalb Jahren bekannt: Der international angesehene Dirigent Daniele Gatti ist als Chef des berühmten Amsterdamer Concertgebouw Orkestra „mit sofortiger Wirkung“ entlassen – weil mehrere Musikerinnen über „unangemessenes“ Verhalten seinerseits geklagt hatten. Der fristlose Hinauswurf ist Folge eines Artikels der Washington Post in der vergangenen Woche. Da hatten die Sängerinnen Alicia Berneche und Jeanne-Michèle Charbonnet den Dirigenten beschuldigt, sie sexuell belästigt zu haben.
Die Vorfälle sollen zwar schon 1996 und 2000 stattgefunden haben, als Gatti noch nicht Chefdirigent in Amsterdam war, doch nach der Publikation meldeten auch mehrere Amsterdamer Musikerinnen „unpassende Erfahrungen“ mit Daniele Gatti, wie das Concertgebouw am Donnerstag mitteilen ließ. Die Vertrauensbeziehung zwischen dem Orchester und dem Chefdirigenten sei „irreparabel“ beschädigt.
Selbstverständlich gilt auch im Falle Gatti zunächst einmal die Unschuldsvermutung. Gleichwohl darf man sinnieren darüber, wie gewichtig die Anschuldigungen sein müss(t)en, wenn der Dirigent „mit sofortiger Wirkung“ seines Amtes enthoben ist. Gegenüber der Washington Post hatte sich Gatti bereits für ein mögliches Fehlverhalten – mehr oder weniger halbherzig – entschuldigt: „Wenn ich mich jemandem genähert habe, tat ich das immer in der völligen Überzeugung, dass das Interesse gegenseitig war.“
Die #metoo-Debatte sorgte für Aufruhr in der Kulturwelt
Mit Siegfried Mauser, dem Münchner Pianisten und ehemaligen Musikhochschulrektor, sowie mit dem Stardirigenten James Levine, jahrzehntelang liebevoll „Jimmy“ genannt, fing es im Jahr 2016 an. Mauser wurde im Mai 2018 zu einer Haftstrafe wegen „sexueller Nötigung“ einer Pädagogen-Kollegin verurteilt; in Sachen James Levine, dessen „Knabenliebe“ als Gerücht seit Jahrzehnten in der Klassikszene kursierte, läuft das Verfahren. Die Metropolitan Opera New York verklagt Levine, Levine verklagt die MET.
Dann kamen die Fälle der Dirigenten Charles Dutoit und Gustav Kuhn. Der Schweizer Dutoit gab im Januar nach vielstimmigen starken Beschuldigungen den Direktorenposten beim Royal Philharmonic Orchestra London auf und sein österreichischer Kollege Gustav Kuhn ist soeben als künstlerischer Leiter der Tiroler Festspiele in Erl zurückgetreten. Mehrere Musikerinnen hatten ihn öffentlich sexueller Übergriffe bezichtigt – bis hin zum Griff zwischen die Beine.