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Mark Twains Fahrt auf dem Neckar: "Ich fahre auf dem Floß nach Heidelberg. Traut ihr euch auch?"

Mark Twains Fahrt auf dem Neckar

"Ich fahre auf dem Floß nach Heidelberg. Traut ihr euch auch?"

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    Mark Twain.
    Mark Twain. Foto: dpa

    Als der Wirt erfuhr, dass ich und mein Agent Künstler wären, stieg unsere Gesellschaft sichtlich in seiner Wertschätzung; wir stiegen noch höher, als er erfuhr, dass wir eine Fußwanderung durch Europa machten.

    Er teilte uns alles über die Straße nach Heidelberg mit, und welche Orte man möglichst meiden und an welchen man möglichst verweilen sollte; er stellte mir die Sachen, die ich in der Nacht zerbrochen hatte, zum Einkaufspreis in Rechnung; er setzte uns ein feines Frühstück vor und fügte eine Menge wunderbarer, hellgrüner Pflaumen bei, in Deutschland die wohlschmeckendste Frucht. Er war so eifrig darauf bedacht, uns Ehren zu erweisen, dass er uns nicht gestatten wollte, zu Fuß aus Heilbronn hinauszuziehen, sondern Götz von Berlichingens Pferd und Wagen rief und uns fahren ließ.

    Skizze mit Schönheitsfehlern

    Ich habe eine Skizze von der Ausfahrt angefertigt. Es ist kein Werk, es ist nur das, was Künstler eine "Studie" nennen - etwas, aus dem man ein vollendetes Bild herstellt.

    Diese Skizze weist mehrere Schönheitsfehler auf; zum Beispiel kommt der Wagen nicht so schnell vorwärts wie das Pferd. Das ist falsch. Weiter ist die Person, die sich aus dem Wege zu gehen bemühte, zu klein; sie fällt aus der Perspektive heraus, wie wir sagen. Die zwei oberen Linien stellen nicht den Rücken des Pferdes dar, es sind die Zügel; ein Rad scheint zu fehlen - das würde natürlich in einem vollendeten Gemälde berichtigt werden.

    Das Ding, das hinten herausweht, ist keine Fahne, es ist ein Vorhang. Das andere Ding da oben ist die Sonne, aber ich habe die Entfernung nicht richtig hingekriegt. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was das Ding vor dem laufenden Mann ist, aber ich glaube, es ist ein Heuhaufen oder eine Frau. Diese Studie wurde in der Pariser Kunstausstellung von 1879 ausgestellt, bekam aber keine Medaille; für Studien werden keine Medaillen vergeben.

    Ein Fluss voller Stämme

    An der Brücke entließen wir den Wagen. Der Fluß war voller Stämme - langer, schlanker, rindenloser Fichtenstämme -, und wir stützten uns auf das Brückengeländer und sahen zu, wie die Leute sie zu Flößen zusammenfügten. Diese Flöße hatten eine Form und Bauart, die dem gewundenen Lauf und der außerordentlichen Schmalheit des Neckars angepasst waren. Sie waren fünfzig bis hundert Yard lang und verjüngten sich allmählich von neun Stämmen Breite am Heck zu drei Stämmen Breite am Bug.

    Das Steuern geschieht hauptsächlich vom Bug aus mit einer Stange; die dortige Breite von drei Stämmen gibt nur dem Steuermann Platz, denn diese kleinen Stämme haben keinen größeren Umfang als die durchschnittliche Taille einer jungen Dame. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Abschnitten des Floßes sind schlaff und nachgiebig, so dass man das Floß leicht zu jeder Art Krümmung zurechtbiegen kann, welche die Gestalt des Flusses erfordert. An vielen Stellen ist der Neckar so schmal, dass man einen Hund hinüberwerfen kann, wenn man einen hat; wenn er an solchen Stellen auch noch stark gekrümmt ist, muss der Flößer eine ziemlich saubere Steuermannsarbeit leisten, damit er um die Ecken kommt.

    Nicht immer darf sich der Fluß in seinem ganzen Bett ausdehnen - das bis zu dreißig und manchmal vierzig Yard breit ist -, sondern Steindämme teilen ihn in drei gleiche Wasserläufe und leiten die größte Wassermenge und -strömung in den mittleren Lauf. Bei Niedrigwasser ragen diese gutgehaltenen, schmalen Dämme vier oder fünf Zoll über den Wasserspiegel hinaus wie der First eines versunkenen Daches, aber bei Hochwasser sind sie überflutet. Eine Mütze voll Regen verursacht im Neckar

    Vor dem Schlosshotel verlaufen Dämme, und die Strömung ist an dieser Stelle sehr reißend. Oft saß ich stundenlang in meinem Glaskäfig, schaute zu, wie die langen, schmalen Flöße durch den mittleren Kanal glitten, wobei sie den rechten Damm streiften und sorgfältig auf den mittleren Bogen der Steinbrücke zuhielten; so beobachtete ich sie und opferte diese ganze Zeit in der Hoffnung, irgendwann einmal eines davon gegen den Brückenpfeiler prallen und kentern zu sehen, wurde aber immer enttäuscht.

    Eines Morgens zerschmetterte dort eines, aber ich war gerade einen Augenblick in mein Zimmer gegangen, um die Pfeife anzuzünden, und so verpasste ich das. Wie ich an jenem Morgen in Heilbronn so auf die Flöße hinunterblickte, überkam mich plötzlich tollkühne Abenteuerlust, und ich sprach zu meinem Kameraden:

    Ihre Gesichte erbleichten etwas, aber sie stimmten so bereitwillig zu, wie sie nur konnten. Harris wollte seiner Mutter kabeln - hielt das für seine Pflicht, da er alles war, was sie auf der Welt noch besaß -, und während er das erledigte, ging ich zu dem längsten und schönsten Floß hinab und rief den Kapitän mit einem herzlichen "Ahoi, Seemann!" an, was uns sofort auf freundschaftlichen Fuß stellte, und wir fingen an zu verhandeln.

    "Ich verstehe Deutsch genauso gut wie der Irre"

    Ich sagte, wir wären auf einer Wanderung nach Heidelberg und würden uns gern bei ihm einschiffen. Ich sagte dies teils durch den jungen Z., der sehr gut Deutsch sprach, und teils durch Mr. X., der es eigenartig sprach. Ich verstehe Deutsch genausogut wie der Irre, der er erfunden hat, spreche es aber am besten durch einen Dolmetscher.

    Der Kapitän rückte sich die Hosen hoch, dann schob er nachdenklich seinen Priem in die andere Backe. Schließlich sagte er genau das, was ich erwartete, nämlich dass er keine Erlaubnis habe, Passagiere zu befördern, und daher befürchtete, das Gesetz könnte ihn zur Verantwortung ziehen, wenn die Sache ruchbar würde oder ein Unfall geschähe. Also charterte ich Floß und Mannschaft und nahm die ganze Verantwortung auf mich.

    Mit einem munteren Lied ging die Steuerbordwache an die Arbeit, hievte das Ankertau auf, holte den Anker ein, und unser Fahrzeug setzte sich mit prächtigem Schwung in Bewegung und trudelte bald mit etwa zwei Knoten Stundengeschwindigkeit dahin.

    Unsere Gesellschaft hatte sich mittschiffs gruppiert. Zuerst war das Gespräch ein bisschen düster und drehte sich hauptsächlich um die Kürze des Lebens, seine Unsicherheit, die Gefahren, die es bedrohte, und wie notwendig und weise es wäre, immer auf das Schlimmste gefaßt zu sein; das leitete zu leisen Anspielungen auf die Gefahren der Tiefe und ähnliche Dinge über; aber als der graue Osten sich allmählich rot färbte und die geheimnisvolle Feierlichkeit und Stille der Morgendämmerung den Freudengesängen der Vögel zu weichen bekann, nahm die Unterhaltung einen fröhlicheren Ton an und begannen unsere Lebensgeister stetig zu steigen.

    Deutschland ist im Sommer der Gipfel der Schönheit

    Deutschland ist im Sommer der Gipfel der Schönheit, aber niemand hat das höchste Ausmaß dieser sanften und friedvollen Schönheit begriffen, wirklich wahrgenommen und genossen, der nicht auf einem Floß den Neckar hinabgefahren ist.

    Die Bewegung eines Floßes ist gerade die richtige; sie ist ruhig, gleitend, sanft und geräuschlos; sie beruhigt alle fiebrige Betriebsamkeit, schläfert alle nervöse Hast und Ungeduld ein; unter ihrem beruhigenden Einfluss schwindet jeglicher Ärger, Verdruss und Kummer, der den Geist quält, und das Leben wird ein Traum, ein Zauber, eine tiefe und stille Verzückung.

    Welchen Gegensatz bildet es zu dem heißen und schweißtreibenden Wandern und der staubigen, betäubenden Eisenbahnraserei und dem langweiligen Holpern über grellweiße Straßen hinter müden Pferden!

    Wir glitten still zwischen den grünen, duftenden Ufern dahin, mit einem Gefühl der Freude und Zufriedenheit, das immerzu wuchs. Manchmal hingen über die Ufer dichte Weidenmassen herab, die das dahinterliegende Land völlig verdeckten; manchmal hatten wir auf der einen Seite prächtige Berge, bis zum Gipfel dicht mit Laub bekleidet, und auf der anderen Seite offene Ebenen, flammend von Mohn oder vom satten Blau der Kornblume bedeckt; manchmal trieben wir im Schatten der Wälder und manchmal am Rande langer Strecken samtigen Grases dahin, frischen, grünen und leuchtenden Grases, einem ewig jungen Zauber für das Auge. Und die Vögel! - sie waren überall; sie strichen ständig über den Fluss hin und her, und nie schwieg ihr jubelnder Gesang.

    Es war eine tiefe und beglückende Freude, zu sehen, wie Sonne den neuen Morgen schuf, und wie sie ihn allmählich, geduldig, liebevoll mit einer Herrlichkeit nach der anderen und einem Glorienschein nach dem anderen bekleidete, bis das Wunder vollkommen war. Wie anders ist es, dieses Wunder von einem Floß aus zu beobachten als durch die schmutzigen Fenster einer Bahnstation in irgendeinem elenden Dorf, wo man eine versteinerte Brotschnitte kaut und auf den Zug wartet. (AZ)

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