Frau Ruisinger, wie kamen Sie auf die Idee, die Online-Schau „Covid-19 & History“ ins Leben zu rufen?
Marion Ruisinger: Das Thema eines unbekannten Virus, das Thema Seuche, ist ein Hauptthema in der Medizingeschichte. Auch in unserem Museum. Seit Jahren vermitteln wir Besuchern als Teil unserer Dauerausstellung Fakten und Hintergründe zu explizit einem ausgewählten historischen Objekt. Wie man eine Geschichte zu genau diesem einen Gegenstand erzählt – darin haben wir Übung. Das können wir auch virtuell.
Menschheitsgeschichte ist auch Seuchengeschichte. Hat jede Seuche ihre eigene Erzählung?
Ruisinger: Seuchen sind Infektionskrankheiten. Je nach Eigenschaften des Erregers haben diese Krankheiten unterschiedliche Gesichter, und erfordern unterschiedliche Reaktionen von der Gesellschaft. Dass wir eine Seuche rückwirkend überhaupt als Pest, Typhus oder Cholera bezeichnen können, ist aber eine moderne Errungenschaft, der Bakteriologie geschuldet. In der Nürnberger Stadtchronik aus dem 16. Jahrhundert steht nicht: „Die Pest ist wieder da“, sondern: „Ein großes Sterben kam in die Stadt“. Wir interpretieren aufgrund von Quellen, dass es wahrscheinlich die Pest war.
Weiß man denn, wie Menschen früher mit Seuchen umgingen?
Ruisinger: Das weiß man, am besten aus Gegenden mit einer hohen Schriftlichkeit. Erstmals trifft das wohl auf den großen Pestzug im 14. Jahrhundert zu. Der sogenannte Schwarze Tod kam mit Handelsschiffen übers Schwarze Meer und in den Häfen des Mittelmeers wie Genua und anderen ging dann die Pest an Land, wenn man so will. Sie traf auf das Italien der Renaissance, Boccaccio hat es in der Rahmenhandlung seines „Decamerone“ eindrucksvoll beschrieben.
Eine Prüfung für die Stärke des Glaubens
Damals existierte das Deutungsmuster theologischer Schuld. Krankheit als Strafe Gottes – so sieht das wohl heute niemand mehr?
Ruisinger: Der religiöse Aspekt von Krankheit in historischer Hinsicht ist sicher spannend. Krankheit als Strafe Gottes ist eine Sichtweise, man verstand Krankheit aber auch als eine Prüfung. Jemand, den Gott besonders liebte, den prüfte er, damit er die Chance bekam, die Stärke seines Glaubens unter Beweis zu stellen, beispielsweise in der Geschichte von Hiob. Hiob im Übrigen wird ganz stark mit der Lepra in Verbindung gebracht.
Im Spielfilm „Outbreak“ strafen Killerviren die Menschen, weil sie weite Teile der afrikanischen Wildnis zerstören. Mit der Abnahme religiöser Deutungsversuche kommen andere Narrative ins Spiel.
Ruisinger: Es sind Konzepte aus der Mikrobiologie, mit denen dieser Film arbeitet. Auch wenn es in diesem Fall Viren sind, ist es doch sehr interessant, dass Erkenntnisse aus der Mikrobiologie inzwischen so allgemein anerkannt sind, dass damit solche Film-Szenarien entwickelt werden können. Das medizinische Konzept der Mikrobiologie ist noch gar nicht so alt, um 1880 herum ging es los, Viren hat man noch später entdeckt.
Also sind mikrobiologische beziehungsweise virologische Konzepte schlicht unser heutiger Deutungsansatz?
Ruisinger: Man erklärt sich Krankheiten aus dem Wissen der Zeit. Man wendet sich an maßgebliche Institutionen, von denen man sich Erklärung, Hilfe erwartet. Auf dieser Ebene passiert heute das Gleiche wie früher, nur die Institutionen haben sich geändert. Auch zu Zeiten der Pest hat man Medizinprofessoren um Rat gebeten, zum Beispiel die medizinischen Magister der Universität zu Paris. Nur das medizinische Wissen war ein anderes und deshalb waren die Antworten andere. Die Deutungsmacht der Kirche war im 14. Jahrhundert selbstverständlich viel höher, das ist in unserer säkularisierten Gesellschaft zu vernachlässigen. Trotzdem befragt die Menschheit in Krisenzeiten immer die, die man gewohnheitsmäßig bei Problemen befragt und die einem die Welt erklären – heute eben neben Medizinern Politiker und Fachleute für Wirtschaftsfragen.
Durch Impfung haben Pocken ihren Schrecken verloren
Nun wird fieberhaft weltweit nach einem wirksamen Medikament und einem Impfstoff gesucht. Ist dann alles wieder gut?
Ruisinger: Alle hoffen auf einen Impfstoff. Das steht im Moment außer Frage. Auch wenn Impfen in unserer Gesellschaft natürlich kontrovers diskutiert werden darf, haben wir doch verlernt, zu wissen, was eine Seuche wirklich bedeutet. Impfen kann Gesellschaften vor solchen Zuständen bewahren. Bei den Pocken ist es tatsächlich gelungen, durch Impfung eine große Volkskrankheit auszulöschen. Das ist übrigens kein Erfolg der modernen naturwissenschaftlichen Medizin, diese Impfung ist bereits entwickelt worden, bevor man Viren und Bakterien kannte und wusste, wie Immunologie funktioniert. Sie basierte auf reiner Empirie und hat dazu geführt, dass Pocken für uns Geschichte wurden und ihren Schrecken verloren haben. Aber es gibt auch heute noch Viren, gegen die man nicht impfen kann, HIV zum Beispiel. Es ist eben leider nicht so, dass man nur den Erreger kennen muss, um einen Impfstoff zu entwickeln.
Die erste Impfung überhaupt war, wie Sie schon sagten, die Pockenimpfung. Können Sie etwas zu ihrer Entstehung sagen?
Ruisinger: Pocken sind eine virale Krankheit. Vor allem Kinder waren betroffen, teilweise mit extrem hohen Sterblichkeitsraten. Anfang des 18. Jahrhunderts hat eine Frau Medizingeschichte geschrieben: Lady Mary Montagu brachte aus dem Osmanischen Reich eine Methode, die dort gegen Pocken angewandt wurde, mit nach England. Gesunde wurden zur Immunisierung kontrolliert mit Pocken infiziert. Aus den Bläschen von erkrankten Kindern entnahm man kleine Mengen Flüssigkeit und kratzte sie gesunden Kindern unter die Haut. Die Methode funktionierte, allerdings starben dennoch manchmal Kinder an zu hohen Dosen des Impfstoffs. Der Durchbruch gelang schließlich 1798 Edward Jenner, der beobachtet hatte, dass Mägde, die sich mit für Menschen ungefährlichen Kuhpocken infiziert hatten, bei Pocken-Epidemien nicht erkrankten. Er entwickelte daraus die Vaccination, die sich schließlich durchsetzte – wenn auch zunächst nicht ganz freiwillig: Als erstes Land weltweit führte 1807 Bayern eine Impfpflicht ein, 1815 folgte Preußen, 1867 England.
Krankheit hat immer der Andere
Gibt es denn so etwas wie Lehren aus der Medizingeschichte, die gezogen werden könnten?
Ruisinger: Historisch betrachtet, gibt es eine fatale Neigung der Menschen, Schuldige zu finden. Das bekannteste Beispiel sind die Pogrome im 14. Jahrhunderts angesichts des Schwarzen Todes. Krankheit wird bis heute betrachtet als die Krankheit des Anderen. Dieses Prinzip der Schuldzuweisung findet sich immer wieder. Da sollte man sensibel sein und eine solche Rhetorik weder benutzen noch verbreiten.
Covid-19 macht einer Gesellschaft, in der die eigene Endlichkeit notorisch verdrängt wird, genau diese schmerzlich bewusst. Hat das auch etwas Positives?
Ruisinger: Es findet mit Sicherheit eine kollektive Entschleunigung statt, die vielen Menschen guttut. Man kann wahrnehmen, welche Menschen in der eigenen, engeren Umgebung leben und was sie für Bedürfnisse haben. Es könnte bestenfalls zu mehr Empathie führen, dass man das Mitdenken für die anderen einübt. Solidaritätsformen auf einem kleinen, lokalen Niveau sowie – in größerem Maßstab – Crowdfunding-Projekte zeigen, dass Menschen sehr stark dazu bereit sind, die Not anderer wahrzunehmen und zu helfen. Wenn von dieser Art der Gemeinschaft nach der Krise etwas übrig bleibt, könnte das unser Zusammenleben und das Leben der Einzelnen tatsächlich nachhaltig positiv verändern.
Interview: Vera von Wolffersdorff
- Marion Ruisinger ist Professorin für Medizingeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2008 leitet sie das Deutsche Medizinhistorische Museum in Ingolstadt.
- Seit das Medizinhistorische Museum Ingolstadt wegen der aktuellen Corona-Pandemie geschlossen hat, stellt es unter dem Link Covid-19 & History auf seiner Website sowie per Hashtag auf Instagram täglich ein Objekt aus der Seuchengeschichte vor – darunter auch die oben abgebildete „Eiserne Lunge“.