Vor gut zwei Monaten schuf die junge US-amerikanische Lyrikerin Amanda Gorman einen perfekten Moment: zur rechten Zeit am rechten Ort mit dem rechten Gedicht. Gut sechs Minuten dauerte der Vortrag ihres Gedichts „The Hill We Climb“. Bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Joe Biden wollte sie aufrütteln und gleichzeitig versöhnen, geschockt immer noch von den Bildern des gestürmten Kapitols.
Wie das Gegenereignis dazu wirkte Gorman an diesem Tag. „Wir treten das Erbe eines Landes und einer Zeit an,/ da ein kleines, dünnes Schwarzes Mädchen,/ Nachfahrin von Sklavinnen, Kind einer/ alleinerziehenden Mutter,/ davon träumen kann, Präsidentin zu werden, und/ nun hier, heute, für einen Präsidenten vorträgt.“
Die Übersetzung von Gormans Gedicht führte zu lautstarken Diskussionen
So heißt das jetzt in der deutschen Übersetzung ihres Gedichts „The Hill We Climb“, das soeben erschienen ist. In der Zwischenzeit allerdings haben sich über die Lockerheit dieses Auftritts die lautstarken Diskurse der Gegenwart gelegt, zum Beispiel, wer dieses Gedicht übersetzen sollte und wer nicht.
Da brach ein Sturm der Empörung über der Niederländerin Marieke Lucas Rijneveld herein, weil sie als privilegierte Weiße die Verse einer Person of Color übersetzen sollte, woraufhin sich Rijneveld zurückzog. Spätestens da war das Gedicht in der Gegenwart angekommen – als neues Futter für die Vorkämpfer linker Identitätspolitik.
Drei Frauen haben das Buch ins Deutsche übersetzt
Der Hoffmann und Campe Verlag schlug von Anfang an einen ungewöhnlichen, aber wohlüberlegten Weg ein und engagierte drei Frauen – Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüsay – für die Übersetzung. Nun kann man in der zweisprachigen Ausgabe, die das Gedicht großzügig auf 64 Seiten verteilt, nachlesen, dass ein magischer Moment schlecht zwischen zwei Buchdeckel passt.
Denn Gormans Verse sind für den mündlichen Vortrag geschrieben, sie haben dabei ihre Magie entfaltet, mit Binnenreimen und gutem Rhythmus, ein bisschen pathetisch, vorgetragen von dieser selbstbewussten jungen Frau. Jedes Wort meint das, was es bedeutet – Poetry Slam eben. Gedruckt und des besonderen Rahmens beraubt, wirkt das Gedicht aber schlicht. „Ein neuer Morgen dämmert herauf, indem wir/ es sagen./ Denn Licht ist immer,/ wenn wir es nur in uns zu finden wagen.“ Das muss man nicht mehrmals lesen, das muss man nicht gedruckt vor sich sehen, da schaut man sich besser diesen Vortrag von Amanda Gorman im Original an.
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