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Literaturnobelpreis: Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch: Bei ihr machen Menschen die Geschichte

Literaturnobelpreis

Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch: Bei ihr machen Menschen die Geschichte

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    Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch erhält den Nobelpreis für Literatur.
    Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch erhält den Nobelpreis für Literatur. Foto: Peter Endig (dpa)

    Man hätte zu gerne sein Gesicht gesehen: das des weißrussischen Diktators Alexander Lukaschenko in dem Moment, als er erfährt, wer da in Stockholm als Gewinner des Literaturnobelpreises bekannt gegeben wurde. Denn gewonnen hat Swetlana Alexijewitsch, weißrussische Schriftstellerin und Journalistin. Vor allem aber unerschrockene Chronistin des sowjetischen und postsowjetischen Alltags – von Terror, Propaganda und Krieg, von Nationalismus, Lügen und Verführbarkeit. Deswegen waren ihre Werke in Lukaschenkos Schreckensreich lange verboten. Die Verleihung des wichtigsten Literaturpreises der Welt an die immer so ruhig, aber entschlossen auftretende 67-Jährige, die trotz aller Anfeindungen einfach nicht wegziehen will aus ihrer Heimatstadt Minsk, ist ein Affront für den gewissenlosen Autokraten. Ausgerechnet drei Tage bevor der sich am Sonntag in einer scheindemokratischen Wahl-Farce im Amt bestätigen lassen will. Mit einiger Verspätung hat Lukaschenko der Literaturnobelpreisträgerin dann gestern Abend doch gratuliert. „Ich freue mich aufrichtig über Ihren Erfolg“.

    Nobelpreis geht vor allem an eine Journalistin

    Der Literaturnobelpreis

    Der Nobelpreis für Literatur gilt als wichtigste literarische Auszeichnung der Welt.

    Der von der Schwedischen Akademie seit 1901 fast jährlich vergebene Preis ist mit 8 Millionen Schwedischen Kronen (etwa 920 000 Euro) dotiert.

    Stifter ist der schwedische Industrielle Alfred Nobel (1833-1896) - das ausgezeichnete Werk soll von hohem literarischen Rang sein und dem Wohle der Menschheit dienen.

    Der Preis wird jeweils am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, in Stockholm überreicht.

    Die Auswahl der Kandidaten verläuft jedes Jahr streng nach traditionellen Regeln.

    Zuerst lädt das fünfköpfige Nobelkomitee Hunderte Personen oder Organisationen dazu ein, geeignete Autoren vorzuschlagen. Empfehlungen können zum Beispiel auch frühere Preisträger abgeben. Niemand kann sich aber selbst benennen.

    Das Komitee erstellt Namenslisten, die in der Akademie auf fünf Kandidaten reduziert werden.

    Die Sitzungen des für drei Jahre gewählten Nobelkomitees sind streng geheim.

    Jedes der 18 auf Lebenszeit gewählten Akademiemitglieder beschäftigt sich dann mit dem Werk der Nominierten und erstellt Berichte.

    Anfang Oktober wird der Preisträger durch Wahl bestimmt. Er muss mehr als die Hälfte der Stimmen aller Mitglieder bekommen.

    Doch selbstverständlich reicht die Entscheidung aus Stockholm weit über Weißrussland hinaus. So wie Alexijewitsch viel mehr ist als eine weißrussische Schriftstellerin. Die in der heutigen Ukraine geborene Nobelpreisträgerin begann als Journalistin. Und das ist sie bis heute geblieben, auch wenn sie nun Bücher schreibt und keine Zeitungsartikel. Sie will die Menschen verstehen – was sie antreibt, was sie tun und warum –, um zu erklären, warum die Gesellschaften des einstigen sowjetischen Imperiums sind wie sie sind. Alexijewitsch vertraut auf die Kraft des Erzählten und Erlebten. Ihre Arbeitsweise gleicht der eines Chorleiters, ihre Literatur einer Komposition, weil sie aus einer Vielzahl von Stimmen auswählt und sie arrangiert – aber den Menschen, die ihr ihr Innerstes offenbaren, niemals ihre Individualität raubt, niemals deren echte Leben zum Leben einer literarischen Kunstfigur verdichtet.

    Aus ihren Büchern, wie dem 2013 in Deutschland erschienenen Opus Magnum „Secondhand-Zeit“, für das Alexijewitsch mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, spricht darum immer auch ein großes Misstrauen in die Kunst. Schon vor Jahren erklärte sie dies auf ihrer Homepage im Internet: „Das Dokument bringt uns näher an die Wirklichkeit, da es das Original einfängt und bewahrt. Nach 20 Jahren Arbeit mit dokumentarischem Material und fünf Büchern, die ich auf dieser Basis geschrieben habe, sage ich, dass die Kunst es nicht geschafft hat, viel von den Menschen zu verstehen.“

    Swetlana Alexijewitschs Literatur schmerzt

    Zahlen und Fakten zum Nobelpreis

    Spannende Zahlen und Fakten zum Nobelpreis und seinen Trägerinnen und Trägern:

    Der in Russland geborene US-Bürger Leonid Hurwicz gewann 2007 die Wirtschaftsauszeichnung - er war 90 und damit älter als jeder andere bisherige Preisträger.

    Hurwicz starb nur wenige Monate nach seinem späten Triumph.

    Die britische Autorin Doris Lessing setzte 2007 einen neuen Altersrekord beim Literaturnobelpreis. Sie war 87 Jahre alt.

    Erst 25 Jahre alt war der Brite Lawrence Bragg, als er 1915 den Physiknobelpreis zugesprochen bekam.

    Der Altersdurchschnitt aller Preisträger in sämtlichen Kategorien von 1901 bis 2012 ist 59 Jahre.

    Bislang wurden knapp 800 Mal Männer, aber nur 44 Mal Frauen ausgezeichnet - darunter Marie Curie als einzige Frau zweimal.

    Der Wirtschaftsnobelpreis ging bisher nur einmal nicht an einen Mann: 2009 gewann Elinor Ostrom aus den USA.

    Unter den bisherigen Preisträgern sind sechs Väter und Söhne sowie ein Vater-Tochter- und ein Mutter-Tochter-Paar.

    Auch drei Ehepaare wurden schon mit Nobelpreisen bedacht.

    Im Zentrum steht dabei die Familie Curie: Das Ehepaar Pierre und Marie erhielt 1903 den Physiknobelpreis, Marie Curie wurde zudem 1911 in Chemie geehrt.

    Die Träger des Literaturnobelpreises schrieben am häufigsten auf Englisch.

    Sechs Mal ist es bislang vorgekommen, dass Preisträger die Annahme der Auszeichnung verweigerten.

    Der Franzose Jean-Paul Sartre lehnte 1964 den Literaturnobelpreis ab, der damalige vietnamesische Ministerpräsident Le Duc Tho wies 1973 den Friedensnobelpreis zurück, weil er ihn nicht mit US-Außenminister Henry Kissinger teilen wollte.

    Die Nazis zwangen Richard Kuhn (Chemie, 1938), Adolf Butenandt (Chemie, 1939) und Gerhard Domagk (Medizin, 1939) zur Ablehnung.

    1958 sorgten die sowjetischen Behörden dafür, das Boris Pasternak den Literaturnobelpreis nicht annahm.

    Drei Träger des Friedensnobelpreises waren bei Bekanntgabe ihrer Auszeichnung inhaftiert: der deutsche Pazifist und Journalist Carl von Ossietzky 1935, die birmanische Oppositionelle Aung San Suu Kyi 1991 und der chinesische Dissident Liu Xiabao 2010.

    Wer auch nur einige Kapitel in eben jenem „Secondhand-Zeit“ gelesen hat, der versteht, was sie meint. „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ ist der Untertitel des Werks, für das Alexijewitsch 20 Jahre nach seinem Zusammenbruch durch das ehemalige Riesenreich fuhr, um die Lebensgeschichten seiner Bewohner zu sammeln. Das Ergebnis sind Sätze wie dieser einer zu jenem Zeitpunkt 59-jährigen Architektin, deren Mutter aus politischen Gründen im Lager war: „Im Lager blieb ich, bis ich drei wurde, bei meiner Mutter. Meine Mutter hat mir erzählt, dass kleine Kinder oft starben. Im Winter wurden die Toten in große Tonnen gesteckt, darin lagen sie bis zum Frühjahr. Die Ratten nagten an den Körpern. Im Frühjahr wurden die toten Kinder dann begraben … das, was von ihnen noch übrig war.“

    Es schmerzt, Alexijewitschs Werke zu lesen. Eben weil in diesen Berichten nicht der Filter einer literarischen Realität eingezogen ist. Der Schrecken, der den Leser anspringt und nicht mehr loslässt, ist real, kann nicht einfach wieder vom Tisch gewischt werden, Buchdeckel zu und fertig. Alexijewitsch hat diese Methode über Jahrzehnte verfeinert. Ihr erstes Buch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (1983), dokumentierte das Schicksal sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg. Sie sprach mit Veteranen des sowjetischen Afghanistan-Feldzugs und den Müttern ihrer toten Kameraden („Zinkjungen“, 1989). Und sie verlieh den Überlebenden der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl eine Stimme („

    Der Nobelpreis ist darum auch ein Zeichen der Hoffnung für die Opposition, musste nun doch sogar der staatstreue Schriftstellerverband gratulieren: „Die Preisverleihung ist ein Meilenstein für unsere Literatur und für ganz Weißrussland.“

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