Es könnte eine einfach schöne Geschichte am Ende eines unfassbar dramatischen Lebens sein.
Sie beginnt in Günzburg, im Jahr 2017. Da besucht ein Journalist des Spiegel, gerade Anfang 30 und eben mit seinem Debütroman „Der Club“ einen auch von der Kritik gelobten Bestseller landend, den denkwürdigen Auftritt eines anderen Mannes, bereits Ende 80 und eben auch Protagonist des eindrucksvollen Dokumentarfilms „Box for Life“, in einer Schule. Denn genau aus dieser schwäbischen Stadt stammte ja Josef Mengele, um den es hier auch geht, wenn der Gastredner erzählt, wie er im Konzentrationslager Auschwitz vom dort Menschen nach Brauchbarkeit selektierenden und für seine Forschung folternden Arzt zum Tod in der Gaskammer bestimmt wurde.
Auch bei Takis Würgers "Noah" senken Kritiker den Daumen
Aus der Begegnung des Jungen und des Alten entsteht ein Projekt. Der Journalist besucht den Zeitzeugen in Israel, über mehr als zwei Monate hinweg erzählt jener ihm sein Leben – das daraus entstehende Buch wird gerade noch fertig, bevor der Alte, der es noch lesen und für gut in seinem Sinn des Erinnerns befinden kann, stirbt. Nun liegt es vor, schlicht „Noah“ betitelt, nach Noah Klieger, von dem es handelt. Das es für manchen Historiker fraglich ist, ob es wirklich Mengele war, dem er persönlich ausgeliefert war, ist nicht das Problem. Denn das Buch versteht sich in der Tradition der „Oral History“, einer persönlich erzählten Zeitzeugengeschichte, in der es um das Erinnern selbst geht. Das Problem ist der Autor.
Denn Takis Würger hat seitdem noch einen Roman geschrieben, der zwar auch zu einem Bestseller wurde, aber für einige Kritiker ein Skandal war. Im ebenfalls schlicht nach der Hauptfigur benannten „Stella“ nämlich habe Würger die Geschichte der jüdischen Nazi-Kollaborateurin Stella Goldschlag unerträglich verkitscht. Und Kitsch und Holocaust – das sei eben mehr als ärgerlich, das sei skandalös …
Noah Klieger hat als Boxer Auschwitz überlebt
Umso mehr steht nun natürlich auch das Ergebnis dieser eigentlich einfach schönen Geschichte unter Beobachtung. Und die ersten Kritiker-Daumen senkten sich pünktlich zur Veröffentlichung vor einer Woche wieder, nicht selten nachdrücklich, wenn auch ohne Skandal-Rufe.
Buch und Stil sind schließlich ganz anders. Hatte Würger „Stella“ szenisch reich ausgestattet, kommt „Noah“ als Abfolge von Protokollsätzen daher. Wie der 17-Jährige als Fluchthelfer geschnappt wird, sich plötzlich in der Hölle wiederfindet, wo bestialische Willkür Alltag ist, wo er all die Leichen bald nicht mehr wahrnimmt, sich durch die Lüge, Boxer zu sein, eine Weile rettet und doch den letzte Funken Hoffnung und Glauben verliert … All das wirkt in seiner schockierenden Nacktheit direkt mitnotiert. Wie die Erlebnisse nach der Befreiung auch. Als Klieger auf dem legendären Schiff „Exodus 47“ die Überfahrt ins versprochene, aber eben noch nicht geschaffene Israel antritt und auf britischen Kriegsschiffen trifft …
Es ist dadurch auch stilistisch ein schwer zu ertragendes Buch. Aber als Zeugnis dieses Lebens, das Klieger später noch als Berichterstatter der Nürnberger Prozesse sah, tut es, genau das, was es soll. Es ist nicht irgendwie gut gemacht. Es ist verstörend und unmittelbar grauenvoll.
Takis Würger: Noah – Von einem, der überlebt. Penguin, 188 S., 20 Euro
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