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Literatur: Sasa Stanisic: „Jedes Zuhause ist ein zufälliges“

Literatur

Sasa Stanisic: „Jedes Zuhause ist ein zufälliges“

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    Irgendwo geboren, in seinem Fall Visegrad, eine Stadt an der Drina: Sasa Stanisic..
    Irgendwo geboren, in seinem Fall Visegrad, eine Stadt an der Drina: Sasa Stanisic.. Foto: Katja Sämann

    Alles Zufall. Es hätte auch ganz anders kommen können, wenn zum Beispiel der Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde Heidelberg, zuständig für den Buchstaben S, ein anderer gewesen wäre. Oder vielleicht auch nur einen schlechten Tag gehabt, nicht aufmerksam zugehört hätte. Wie es eben auch passieren kann. So aber hörte er aufmerksam zu und sagte dann: „Bringe mir deine Immatrikulationsbescheinigung, dann sehen wir weiter.“ Und Saša Stanišić durfte in Deutschland weitersehen, studieren und dann auch einfach weiterschreiben. Auf seiner später erteilten Aufenthaltserlaubnis stand: „Erlischt mit Beendigung der selbstständigen Tätigkeit als Schriftsteller und den damit verbundenen Aktivitäten.“

    Alles Zufall also, dass einer der herausragenden deutschen Gegenwartsautoren, mittlerweile auch mit deutschem Pass, kein amerikanischer Schriftsteller geworden ist. Auch das hätte sein können, wenn Saša Stanišić seinen Eltern 1998 gefolgt wäre. Da war er 20, und die Eltern sollten nach dem Ende des Bosnien-Krieges zurück in ihr Land, das jetzt anders hieß, wählten aber stattdessen Amerika als vorübergehende Heimat. Vielleicht würde er dann auf Englisch schreiben, vielleicht nicht. „Jedes Zuhause ist ein zufälliges“, schreibt Saša Stanišić. „Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“

    Er schreibt ein großes Ding nach dem anderen

    Alles Zufall. Welch ein glücklicher aber für die deutschsprachige Literatur. Da darf einer also erst mal nur bleiben, wenn er schreibt, und genau dies ist, was er will. Nichts anderes. Und Eichendorff-Gedichte lesen. Und dann schreibt er ein großes Ding nach dem anderen. Schreibt einen wunderbar poetischen Debütroman („Wie der Soldat das Grammophon reparierte“), der zum internationalen Erfolg wird, schreibt im Roman „Vor dem Fest“ über ein Dorf in der Uckermark so präzise und eindrucksvoll, als habe er da sein halbes Leben verbracht, und bekommt dafür den Preis der Leipziger Buchmesse. Schreibt Erzählungen, die ihm als Preis 111 Flaschen Riesling einbringen. Und jetzt „Herkunft“, sein persönlichstes Werk bislang: Autobiografie, Memoir, Familiengeschichte, Essay, Selbstbefragung, Liebeserklärung … Wieder großartig. Ein 360 Seiten langes Buch „über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.“ So steht es auf dem Buchumschlag. Knapper kann man es nicht erklären.

    Irgendwo geboren – in seinem Fall bedeutet das am 7. März 1978 in einer Regennacht in Višegrad, berühmt wegen eines Bauwerks und eines Romans von Ivo Andrić: „Die Brücke über die Drina“. Damals ist Višegrad eine Stadt in Jugoslawien, heute liegt sie in Bosnien-Herzegowina. Sein Vater kommt aus einer serbischen, seine Mutter aus einer bosnisch-muslimischen Familie. 1992 erreicht der Krieg die Stadt, und ein Polizist legt der Mutter nahe, lieber schnell zu verschwinden, fragt, ob sie wisse, wie viel Uhr es sei. Spät. Direkt danach beginnt sie zu packen. Der Zufall bringt sie und den 14-jährigen Sohn nach Heidelberg. Der Vater kommt später nach, eine Narbe am Oberschenkel. Die Großmutter bleibt.

    So weit zu den Eckdaten. Zu dem, was die Menschen erwarten zu hören, wenn sie fragen: „Wo kommst du her?“ Doch von irgendwo anders … Aber Saša Stanišić verweigert sich in „Herkunft“ der schnellen Antwort und der simplen ein- und ab- und ausgrenzenden Kategorisierung. Herkunft, das bedeutet für ihn: Familie, Freunde, Heimaten , Erlebtes … All das, was einem zu dem Menschen gemacht hat, der man gerade ist. Als ein Geografielehrer ihn nach der Hauptstadt seines Heimatlandes fragt, antwortet er: „Belgrad und Sarajevo und Berlin.“ Der Ort, an dem er sich in Heidelberg am wohlsten fühlt: Eine Aral-Tankstelle im gar nicht schmucken Hochhaus-Stadteil Emmertsgrund, höchster Ausländeranteil, wo sich die Jugend trifft, ein multinationaler, vom Zufall zusammengewürfelter Haufen. Wegen der Freunde, schreibt er, geht er nicht verloren: „Wir haben aus der Zeit und dem Ort etwas gemacht, auch wenn es oft bloß Unsinn war.“ Seine Eltern schuften derweil in schlecht bezahlten Jobs: der Vater, ein Betriebswirt, auf dem Bau. Die Mutter, Politologin, stirbt „tausend heiße Tode“ in einer Großwäscherei.

    Er will kein "Jugo und Flüchtling" sein

    Der Geschichtenerzähler, der Sprachkünstler Stanišić reist in seiner Erinnerung umher. Schreibt flapsig, schreibt ernst, schreibt komisch, schreibt anrührend, setzt seine Pointen, prüft seine Erinnerungsfetzen auf Echtheit, geht tief in die Familiengeschichte zurück, fabuliert, träumt, erdichtet, spielt. „Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte.“ Schreibt über einen Jungen, der einst glühender Fan von Roter Stern Belgrad war und es dann mal mit dem HSV versucht. Der kein „Jugo und Flüchtling“ sein will und sich anfangs deswegen gerne als Slowene ausgibt, weil die Alpenrepublik am wenigsten in den Schlagzeilen gewesen ist. Der als Nicht-Muttersprachler erst eine Förderklasse mit Schwerpunkt Spracherwerb besucht, in der zehnten Klasse, vom Deutschlehrer ermutigt, Gedichte dann auch auf Deutsch verfasst. Der sich zum Rumhängen „mit der Aral“ trifft, zum Lernen aber lieber mit den Deutschen. Disparate Erfahrungen … Der nie Freunde einlädt, weil er sich schämt, dass es zu Hause keine zusammenpassenden Teller gibt und Messer, deren Klingen sich biegen … Der jung ist, nachts im Freibad Kanu fährt.

    Und er schreibt über sich nun als junger Vater und über die Großmutter in Višegrad, die langsam in die Demenz abgleitet, letztes Bindeglied einer über Länder und Kontinente zerstreuten Familie zur alten Heimat. „Wir sind mit Jugoslawien auseinandergebrochen und haben uns nicht mehr zusammensetzen können.“ Was bedeutet: Er ist so gut wie niemals dort, wo Familie ist.

    Mit der Großmutter fährt er in ein Dorf in den Bergen, in dem nur noch dreizehn Menschen leben, viele Grabsteine den Namen Stanišić tragen und er Wasser aus einem Brunnen trinkt, den sein Urgroßvater ausgehoben hat. Herkunft auch dieser Ort. Seine Eltern, ausgestattet nun mit amerikanischen Pass, leben mittlerweile in Kroatien. Alle neun Monate müssen sie ausreisen, in ein nichteuropäisches Land. Verrückte, verrückte Welt. Über den Tag, an dem er Višegrad als Kind verließ, schreibt Saša Stanišić: „In Bosnien hat es geschossen am 20. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte auch Osloer Regen sein können.“ Alles Zufall. Ein großartiges, großartiges Buch.

    • Saša Stanišić: Herkunft. Luchterhand, 368 S., 22 €.
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