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Literatur-Nobelpreis 2011: Die ungeschriebenen Seiten

Literatur-Nobelpreis 2011

Die ungeschriebenen Seiten

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    Der schwedische Tomas Tranströmer bei sich zu Hause in Stockholm. Die Aufnahme ist aus dem Jahr 2001.
    Der schwedische Tomas Tranströmer bei sich zu Hause in Stockholm. Die Aufnahme ist aus dem Jahr 2001. Foto: dpa

    Die Wege der Stockholmer Nobelpreis-Jury sind unerforschlich (wenn nicht vorab per Indiskretion die Buchmacher bedient werden). Der mittlerweile 80-jährige schwedische Lyriker Tomas Tranströmer zählte seit so vielen Jahren zu den Preis-Favoriten, dass er drohte, als ewiger Kandidat in die Annalen der Literatur einzugehen. Umso überraschender, dass diese seit Langem durchdringende Stimme der europäischen Poesie nun Gehör bei den Juroren gefunden hat.

    Die Lyrik war, nebenbei, auch wieder mal am Zug, nachdem die letzte einschlägige Siegerin, die Polin Wislawa Szymborska, 1996 gekürt wurde! Schlechte Zeiten für Verse? Mitnichten. Die wenn auch geringen Auflagen der Gedichtbände haben nach wie vor eine treue Leserschaft. Und fortan wird die Stimme Tranströmers gewiss vernehmlicher im Poesie-Chor.

    Debüt im Jahr 1954 mit 17 Gedichten

    Der Schwede debütierte 1954 als Lyriker mit „17 dikter“ (17 Gedichte). Seit Ende der 60er Jahre wird Tranströmer – Respekt vor dem Hanser Verlag, Respekt vor dem Übersetzer Hanns Grössel! – auch bei uns geschätzt. Übrigens sind erste Übersetzungen und Hinweise auf den Dichter keiner Geringeren als Nelly Sachs zu danken, der 1940 vor den Nazis nach Schweden geflüchteten deutschen Lyrikerin, die 1966 den Nobelpreis entgegennahm.

    Was zeichnet Tranströmers Gedichte aus, wenn man einmal so pauschal fragen darf? Zunächst die Sinnlichkeit, das gefühlsstarke Erleben, die Gerüche und Farben in den Naturgedichten, ohne dass der Bilderschmuck die Beobachtung erstickt. Aufs Ganze ist der Ton des studierten Literaturwissenschaftlers und Psychologen, der ehedem in einer Jugendstrafanstalt, später als Berufsberater am Arbeitsamt tätig war, eher ruhig, reflektierend, mit Hang zum epigrammatischen Haiku. Die Dinge kommen in ihrer Undurchschaubarkeit und Gegensätzlichkeit ins Gedicht, in einer oft überraschenden, visionären und musikalischen Sprache, die an der Metapher festhält und angesichts der verstreichenden Zeit den Schatten über die Verse legt.

    Tranströmer hat das Gedicht in Analogie zum Bahnhof als „Kommunikations-Knotenpunkt“ bezeichnet, „von dem aus die Wirklichkeit zwar nicht erklärt, aber in einer neuen Beobachtung gezeigt wird“. Die Phantasie des Dichters weiß um die nahen und doch so fernen, sich entziehenden Erinnerungen (siehe nebenstehend „Die Erinnerungen…“), sie wurzelt in der authentischen Erfahrung. Teil dieser Erfahrung ist es, das Ich zurückzunehmen:

    Phantastisch zu spüren, wie mein Gedicht wächst, während ich selber schrumpfe. Es wächst, nimmt meinen Platz ein…

    Das Gedicht, so heißt es weiter, wirft den Dichter „aus dem Nest“, sprich aus dem Behagen des Wortbetriebs. Es führt ihn ins „Wilde“, in die Ahnungen und Geheimnisse des Ungesagten. Davon spricht (ebenfalls hier nachzulesen) „Im März ’79“.

    Tief ins Leben Tranströmers schnitt der 1990 erlittene Schlaganfall. Ihm folgten weitere. Der Schwede ist schwer behindert und weitgehend ohne Sprachvermögen. Und doch kämpfte sich Tranströmer – mithilfe seiner Frau – zurück in die Dichtung. 1996 publizierte er den Band „Trauergondel“. Das Motiv ist zwei Stücken von Franz Liszt entnommen. Der Titel wird zur Metapher fürs Gedicht:

    Die Gondel ist schwer beladen mit den zusammengekauerten Steinen der Zukunft.

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