Vor etwas mehr als 25 Jahren erschien ein Roman, in dem ein ziemlich junger Mann von Sylt aus quer durch die wohlstandsverwahrloste Bundesrepublik reist, nach Frankfurt, München, an den Bodensee, einige irre Partys mitfeiert, trinkt, raucht, sich dabei ziemlich gottverlassen fühlt – also eigentlich abgrundtief verzweifelt. Am Ende dieser Odyssee lässt er sich in Zürich auf den See rudern – und den Leser mit dem unguten Gefühl zurück, das könnte tatsächlich ein Ende sein …
Schriebt Christian Kracht Popliteratur oder nicht? Und überhaupt: Ist das autobiografisch?
Das ist eine natürlich völlig verkürzte Fassung von „Faserland“, ein Roman, über den in den Folgejahren unter Literaturkritikern wild debattiert wurde. Die eine Frage: Ist das jetzt eigentlich eher substanzloses Oberflächengeblubber und abzuhaken oder irgendetwas wichtiges Neues, nennen wir es mal Popliteratur? Die andere: Ist der Ich-Erzähler mit seinem Markenwahn und seiner schnöseligen Upper-Class-Attitüde der barbourjackentragende Autor selbst, also ist das alles autobiografisch? Was aber nun nach 25 Jahren nicht mehr zu debattieren ist: Dass der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht mit „Faserland“ einen der entscheidenden Romane der Neunzigerjahre geschrieben hat, einen, der eine Zäsur bedeutete: anderer Ton, anderes Gefühl, anderer Pulsschlag einer Generation.
Benjamin von Stuckrad-Barre kommentiert: "Endlich. Can't Wait".
Das alles muss man vorwegschicken, um all die Aufregung um Krachts neuen Roman zu verstehen, sein jetzt sechster, der am Donnerstag bei Kiepenheuer & Witsch erscheint, und zwar explizit ausgeflaggt als Fortsetzung von „Faserland“. Titel: „Eurotrash“. Das Frühjahr ist nicht arm an Romanen von großen Namen: Zeh, Murakami, Ranzmayer, Hermann ... Aber über kein anderes Buch wurde schon im Vorfeld so viel gesprochen und berichtet. Wobei Kracht selbst fein das Ganze anheizte mit Ankündigungen unter anderem auf Facebook und Instagram. Da vermeldete er schon im Oktober, dass er mit seinem Verleger Helge Machow den Roman fertig lektoriert habe. Was zu begeisterten Kommentaren unter anderem von Schriftsteller-Pop-Buddy Benjamin von Stuckrad-Barre führte: „Endlich. Can’t Wait“.
Der Roman "Eurotrash" beginnt dort, wo Faserland endete: in Zürich
Also. So beginnt der Roman, mit diesem Wort. So wie damals „Faserland“. Und man ist tatsächlich dort, wo „Faserland“ endete: in Zürich. „Meine Mutter wollte mich dringend sprechen.“ Was dann auf den nächsten 200 Seiten folgt, ist wieder die abgedrehte Geschichte einer Reise, der Ich-Erzähler fährt im Taxi mit seiner demenzkranken, alkohol- und tablettenabhängigen Mutter quer durch die Schweiz, landet in einer faschistischen Kommune, sucht nach Stätten der Kindheit, arbeitet Kilometer für Kilometer Familiengeschichte ab: Missbrauch, NS-Vergangenheit, Größenwahn. Und auch: Wie das damals war mit „Faserland“. „Ich hatte mich nämlich mit fünfundzwanzig entschlossen, einen Roman in der Ich-Form zu schreiben, erinnerte ich mich, bei dem ich mir selbst und dem Leser vorgaukeln würde, ich käme aus gutem Hause, wäre wohlstandsverwahrlost und hätte etwas von einem autistischen Snob ...“ Kracht spiegelt Kracht spiegelt Kracht. Was ist wahr, was nicht? Der Roman des Frühjahrs also?
Keine Frage, aber: Pop ist das nicht mehr. Ein Vierteljahrhundert später trägt ja auch kaum mehr einer Barbourjacken in der Stadt!
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