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Literatur: Michel Houellebecq, der Wutbürger-Versteher

Literatur

Michel Houellebecq, der Wutbürger-Versteher

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    Seine Figuren sind sein Alter Ego: Michel Houellebecq.
    Seine Figuren sind sein Alter Ego: Michel Houellebecq. Foto: Boris Roessler, dpa

    Endlich wieder Literatur. Denn der stets zwischen Bewunderung und Anwiderung changierende Kult um den Superstar Michel Houellebecq mag sich zwar durch Meldungen wie die Ankündigung seines Rückzugs aus der Öffentlichkeit, eine dritte Heirat, dem Lob Donald Trumps oder seiner Empfehlung eines Austritts Frankreichs aus der EU immer wieder befeuern lassen. Aber das Beste und Klügste, das Interessanteste und Fruchtbarste an diesem gruselig faszinierenden Kauz waren schon immer seine Romane. „Serotonin“ heißt der neue. Nun ist er nicht nur im französischen Original erhältlich, sondern auch auf Deutsch, bald auch auf Englisch, Spanisch, Italienisch ... – weltweit also, denn der Name Houellebecq steht für globale Debatten- und Bestseller-Garantie.

    Vor 25 Jahren hat das begonnen. Mit „Ausweitung der Kampfzone“ hatte er damals, Mitte 30, eine so furiose wie schonungslose Abrechnung mit den Verheerungen geliefert, die die sexuelle Befreiung und der Triumph des Konsumismus für das Gefühls- und Sexualleben der westlichen Welt bedeuteten. Und sich seit den darauffolgenden „Elementarteilchen“ immer wieder als Prophet neuer Verwüstungen des Menschlichen durch den Fortschritt erwiesen. Sei es durch das Klonen, dann, in „Plattform“, durch den islamistischen Terror, in „Die Möglichkeit einer Insel“ durch die Künstliche Intelligenz, in „Karte und Gebiet“ durch die Aushöhlung der Kunst. Und zuletzt, in „Unterwerfung“, durch den Befund, dass sich die liberal verweichlichten westlichen Gesellschaften bereitwillig dem Islam auslieferten. Skandalträchtige Bücher, immer sexuell explizit und nicht selten in Geschlechter- und Gesellschaftsbild im Ruch des Reaktionären. So ist die Spannung auch diesmal groß: Wo schneidet Houellebecqs siebter Roman ins Fleisch unserer Zeit?

    Ohne Sex geht es bei diesem Autor nicht

    „Serotonin“ setzt die seriellen Verfalls-Visionen fort. Wie immer steht dabei ein Alter Ego des Autors im Zentrum, ein verbitterter, einsam alternder Franzose, für den die Hoffnung auf Glück nicht nur verloren, sondern sich ohnehin als Illusion entlarvt zu haben scheint. Doch während Houellebecqs frühere Figuren dem Leben noch die Befriedigung der Triebe abzutrotzen versuchten, nimmt Florent-Claude Labrouste, 46 Jahre alt, genau davon Abschied. Captorix, das neue Antidepressivum, das er einnimmt, um die existenzielle Leere und die Entfremdung von den Menschen überhaupt noch ertragen zu können, macht ihn nämlich impotent. Und weil auch seine aktuelle Beziehung mit der 20 Jahre jüngeren Japanerin Yuzu gerade im Desaster verendet, gibt dieser neue Houellebecq nun auch den Sex in all seinen freilich wieder detailliert beschriebenen Formen – auch Hunde, ein zehnjähriges Mädchen und „Gangbangs“ fehlen dabei nicht – auf. Was aber bleibt dann noch?

    Zunächst ein wenig originelles Motiv. Florent-Claude erinnert sich an die drei bedeutenden Frauen in seinem Leben. Bei Houellebecq bietet das natürlich allerlei Gelegenheiten zu fulminanten Abrechnungen mit Zeiterscheinungen: Patchwork eine „Widerlichkeit“, alle möglichen Männertypen „Schwuchteln“, Frauen im Grunde „Schlampen“. Doch Houellebecq offenbart zusätzliche Perspektiven: Florent-Claude offenbart sich letztlich als Romantiker, der in der Liebe den einzig möglichen Sinn der Existenz sieht – und in Medikamenten wie Captorix, die den titelgebenden Serotonin-Spiegel regulieren, sieht er die hilflose Antwort unserer Zeit auf die Zerstörung dieser Möglichkeit.

    Houellebecq schreibt: „Von allen Begierden und allen Gründen zu leben befreit (war das nicht gleichbedeutend? ...), hielt ich die Verzweiflung auf einem annehmbaren Niveau, man kann mit der Verzweiflung leben, ja die meisten Menschen leben auf diese Weise, hin und wieder fragen sie sich trotzdem, ob sie sich zu einem Hauch von Hoffnung hinreißen lassen können, zumindest stellen sie sich die Frage, bevor sie sie verneinen. Dennoch machen sie beharrlich weiter, und das ist ein bewegendes Schauspiel.“

    So ist es auch im Roman (der natürlich wieder allerlei Literatur selbst zum Thema macht, von Thomas Manns abgekanzeltem „Zauberberg“ bis zu Gogols gerühmtem „Die toten Seelen“ und schließlich allgemein sehr nach Schopenhauer und konkret sehr nach Philip Roth klingt). Florent-Claude zieht sich aus allem zurück: „Ich war also in dem Zustand, in dem das alternde, sterbende und sich vom Tod erfasst fühlende Tier ein Lager sucht, um sein Leben zu beschließen.“

    Aber jene „Nacht ohne Ende“, die dieser Antiheld da auf sich zukommen sieht, betrifft natürlich auch die Gesellschaft, in der er lebt. Den kommenden Untergang des Abendlandes nämlich beschwört Houellebecq beispielhaft durch das sich abzeichnende Sterben der Landwirtschaft, das den Roman zunächst nur wie eine Stimmungsszenerie grundiert – bevor die Krise schlagartig in den Vordergrund drängt und explodiert.

    Florent-Claude, der fürs französische Landwirtschaftsministerium arbeitet, versucht, bei der EU („alte Schlampe“) das Mögliche für das Überleben der Bauern zu bewirken. Wie verloren dieser Kampf ist, erläutert er nicht nur theoretisch durch vernichtende „Anpassungen“ innerhalb Europas und das unmögliche Bestehen im globalen Wettbewerb. Es zeigt sich ihm auch konkret, als er bei seiner Flucht aus dem bisherigen Leben einen früheren Freund wiedersieht. Der nämlich steht wie viele andere Landwirte durch die neuesten Milchpreissenkungen vor dem Ende – und rüstet sich zum bewaffneten Kampf ...

    Der Einzelne als Beispiel für die gesellschaftlichen Brüche

    Wie sein Verlag betont, hat Houellebecq sein Manuskript und damit auch diese Szenen einer Eskalation zu einem Zeitpunkt abgeliefert, bevor in Frankreich die ja wesentlich von Bauern mitgetragenen Proteste der Gelbwesten auftraten – um zu betonen, dass der Autor wieder einmal visionär gewesen ist. Interessant auch, dass Houellebecq für dieses Thema bereits politisch von ganz links bis ganz rechts Lob erhalten hat. Aber für die Bedeutung der Literatur selbst spielt das ja nicht die entscheidende Rolle. Wesentlicher ist, dass es dem Autor mit „Serotonin“ tatsächlich wieder einmal gelungen ist, das Scheitern eines Einzelnen geradezu pornografisch und jedenfalls so gar nicht mitleiderregend in Szene zu setzen – und gerade dabei ein Bild für die tiefer und weiter reichenden gesellschaftlichen Brüche abzuliefern, das tatsächlich berührt. Für den Einzelnen und ihn selbst mag das stimmen: „Es ist nicht die Zukunft, es ist die Gegenwart, die dich tötet, die wiederkommt, um an dir zu nagen.“ Für unsere Gesellschaft und unsere Zeit aber sät er gerade den Zweifel, an dem wir womöglich selbst nagen sollten. Ein guter Houellebecq: Michel, der Wutbürger-Versteher.

    " Michel Houellebecq: Serotonin. DuMont, 330 S., 24 €

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