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Literatur: Martin Walser: Hilflos im Angesicht der Weibsattacke

Literatur

Martin Walser: Hilflos im Angesicht der Weibsattacke

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    Martin Walser veröffentlicht ein neues Buch, das zur aktuellen "#MeToo"-Debatte passt.
    Martin Walser veröffentlicht ein neues Buch, das zur aktuellen "#MeToo"-Debatte passt. Foto: Felix Kästle, dpa

    Zielgenauer kann man kaum in einer Debatte landen wie Martin Walser mit seinem neuen Buch. Der Roman „Gar alles“ lässt sich gar nicht anders lesen als mit ständigem Seitenblick auf die gegenwärtige „#MeToo“-Aufgeregtheit. Denn im Zentrum des schmalen Bandes steht die Frage eines sexuellen Missbrauchs.

    Ein gewisser Justus Mall, Autor philosophischer Bücher, schreibt „Briefe an eine unbekannte Geliebte“, nicht auf Papier, sondern als Blog und damit hinaus in die Weiten des Internets. Er sucht, wie er offenherzig bekennt, nach Verständnis für sein Dilemma, welches – auf den Punkt gebracht – darin besteht, ein Erotomane zu sein.

    Mall liebt „die Eine“ (seine Frau) ebenso wie „die Andere“ (seine Geliebte), sieht sich aber von beiden Seiten zum Verzicht auf die jeweils andere gedrängt. Wenn’s bloß bei diesem Zwiespalt bliebe! Justus Mall aber hat sich tagtäglich der „hageldichten Folge weiblicher Erscheinungen“ zu erwehren, hervorgerufen durch „Busen plus Blick“ und allerlei weitere „Weibsattacke“.

    Auf die öffentliche Empörung folgen Krankheit, Pensionierung und Neubeginn

    Nicht verwunderlich bei solcher Konditionierung, dass dem Mann eines Tages etwas widerfährt, das seiner bisherigen Existenz – vor dem Philosophen-Dasein war er Oberregierungsrat – den Boden entzieht. Bei einem Opernbesuch steht er in der Pause an der Bar, als sich auf dem Hocker nebenan für einen Moment eine junge Frau zu ihm wendet – genauer gesagt, in seiner Wahrnehmung: ein „gleißender Oberschenkel“. Er fühlt sich „verführt“, möchte deshalb „reagieren dürfen“, tippt mit dem Zeigefinger kurz auf den Schenkel und bringt dazu ein Prosit aus, was die Frau auch erwidert.

    Zwei Tage später aber bekommt er die Szene via Zeitung aus einer anderen Perspektive präsentiert, die junge Frau war nämlich Journalistin. Und schreibt nun, sie sei in der Pause von einem hochgestellten Beamten begrapscht worden.

    Andere Zeitungen steigen ein, ein Skandal kommt ins Rollen, auch, weil Justus Mall sich verteidigt mit Sätzen wie: „Wo du hinschaust, lächelt, lacht, grinst dir eine Frau entgegen und streckt dir etwas hin, ihre Haare, ihre Brüste, ihre Beine.“ Was er, das vergisst er nicht hinzuzufügen, „nicht furchtbar, sondern herrlich“ findet. Auf die öffentliche Empörung folgen Krankheit, Pensionierung, Neubeginn mit Philosophie.

    Walser verkauft seine Hauptfigur unter Wert

    Die gewählte Briefstruktur – zu Wort kommt ausschließlich das Ich, das aus dem Netz zu keiner Zeit Resonanz erhält – bringt es mit sich, dass der starke Tobak des Justus Mall nicht auf Widerrede stößt. Das ist natürlich der erzählerische Trick des Martin Walser, mit dem er der wohlfeilen Wohlausgewogenheit entflieht. Für den inzwischen 91 Jahre alten Romanautor ist das zugleich heikel, bringt es doch die Gefahr mit sich, mit dem Sachbuchschreiber Mall schnöde kurzgeschlossen zu werden.

    Schwer wiegt, dass Walser seine vom Eros gebeutelte Hauptfigur unter Wert verkauft. Etwas mehr Reflexion über das neurotisch triebgesteuerte Entflammtsein, die Hilflosigkeit des Verführten, die ihn zum Ausagieren geradezu zwingt, dürfte man von einer Figur wie Justus Mall schon erwarten, der Mann ist schließlich Oberregierungsrat und vermag Nietzsche zu lesen.

    Dass Walser ihn in seinen Rechtfertigungen an die „unbekannte Geliebte“ in der verbalen Schmuddelecke belässt, passt auch so gar nicht zu den Maximen und Reflexionen, die den Briefen beigegeben sind – in der Buchmitte über dreieinhalb Seiten hinweg –, ebenso wenig wie zu den Kurzgedichten, die als Post scriptum so gut wie alle Schreiben beschließen.

    Auch gibt Walser den Widerspruch, dass Justus Mall seinen Schenkel-Tipp als Petitesse auslegt, die Journalistin aber von einem obszönen Übergriff berichtet, leichtfertig preis. Weshalb das männliche Selbstverständnis hier auf Freispruch plädiert, das hätte man gerne ausführlicher gelesen von der Hand des einschlägig bekannten Seelenkundlers und nach wie vor verschwenderisch sein Füllhorn ausgießenden Sprachartisten Walser.

    Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Rowohlt, 107 S., 18 €.

    Der Fall Harvey Weinstein und seine Folgen 2017

    5. Oktober 2017: Ein Artikel der New York Times bringt den Stein ins Rollen: Ashley Judd und weitere Schauspielerinnen werfen Weinstein darin sexuelle Belästigung vor. Weinsteins Anwalt spricht von Verleumdung, der Produzent wolle juristisch gegen das Blatt vorgehen.

    8./9. Oktober 2017: Sein eigenes Filmstudio, The Weinstein Company, habe den Hollywood-Mogul entlassen, erklären dessen Direktoren. Prominente wie Meryl Streep, Judi Dench und Hillary Clinton distanzieren sich - ebenso wie Weinsteins Ehefrau Georgina Chapman.

    12. Oktober 2017: Die Polizei in New York will bereits abgeschlossene Ermittlungen gegen Weinstein neu aufrollen.

    14. Oktober 2017: US-Medien berichten, die Oscar-Akademie habe Weinstein nach einer Dringlichkeitssitzung aus dem Verband ausgeschlossen.

    15. Oktober 2017: Scotland Yard in London ermittle wegen sexueller Übergriffe gegen den Produzenten, berichten Medien. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron will ihm den Titel "Ritter der Ehrenlegion" entziehen, der Weinstein 2012 verliehen worden war.

    16. Oktober 2017: Mit dem Hashtag #MeToo haben sich bereits Zehntausende Frauen im Internet als Opfer sexueller Übergriffe zu erkennen gegeben - ausgelöst durch einen Tweet der Schauspielerin Alyssa Milano.

    17. Oktober 2017: Medien berichten, der Produzent sei als Verwaltungsrat der Weinstein Company zurückgetreten.

    19. Oktober 2017: Die Polizei in Los Angeles nimmt Ermittlungen auf. Das britische Filminstitut entzieht Weinstein die Ehrenmitgliedschaft.

    30. Oktober 2017: Der Verband der US-Filmproduzenten schließt Weinstein aus der Producers Guild of America aus.

    7. November 2017: Der Produzent soll private Sicherheitsfirmen engagiert haben, um Informationen über seine mutmaßlichen Opfer zu sammeln und weitere negative Artikel zu stoppen, berichtet das Magazin The New Yorker. Auch Journalisten seien ins Visier geraten.

    10. November 2017: Die Staatsanwaltschaft in Los Angeles will ein Team von Sonderermittlern einsetzen, um Fälle von sexueller Belästigung in der Filmbranche aufzuklären. Zuvor waren Vorwürfe gegen weitere US-Stars laut geworden - darunter Dustin Hoffmann und Kevin Spacey, der Komiker Louis C.K. sowie der Regisseur James Toback.

    12. November 2017: Bei einem Protestmarsch in Hollywood demonstrieren Hunderte gegen sexuelle Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz.

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