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Literatur: Knausgård gegen Knausgård

Literatur

Knausgård gegen Knausgård

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    Linda Boström-Knausgård, Schwedin, *1972
    Linda Boström-Knausgård, Schwedin, *1972 Foto: Schöffling

    Es war eine Nachricht aus der schwedischen Provinz, die in der literarischen Welt Aufmerksamkeit erregte: Vor ziemlich genau einem Jahr hat die mit ihrem Werk eher unbekannte schwedische Schriftstellerin Linda Boström bekannt gegeben, dass sie sich vom Vater ihrer vier Kinder scheiden lässt. Das Aufregende daran: Es setzte sich in der Wirklichkeit ein Drama fort, das zuvor literarisch Millionen Leser gefesselt hatte.

    Denn ihr Mann war der Norweger Karl Ove Knausgård. Und der hatte in sechs dicken Romanen mit dem Originaltitel „Min Kamp“ (also „Mein Kampf“) sein Leben aufgearbeitet – und dabei auch weite Teile der Ehe der beiden. So wissen die Menschen weltweit, die ihn gelesen haben, nicht nur reichlich über deren Be- und Erziehungsringen Bescheid, sondern auch: dass Linda Boström-Knausgård unter depressiven Schüben leidet und sie sich nach dem zweiten Teil der Reihe, der auf Deutsch „Lieben“ hieß und sich als erster ins Familienleben vertiefte, völlig verstört selbst in die Psychiatrie einwies. Nur zum Beispiel.

    Sicher: Sie, selbst Schriftstellerin, kannte ihren Mann und dessen Schreiben, das sich schon früh als in der Fiktion literarisch unfruchtbar erwiesen hatte. Aber solche Art der Beichte vor aller Augen und der darin bloßgelegte Blick auf ihre Person – das hat sie dann doch umgehauen. Man darf sich durchaus fragen, was wohl die vier Kinder der Knausgårds denken werden, wenn sie später ihre frühen Jahre so vor aller Welt bespiegelt lesen können – zumal der Reigen ja kein Ende zu haben scheint. Nun bei uns erschienen ist der Auftakt zum nächsten Mehrteiler ihres Vaters.

    „Im Herbst“ eröffnet einen Jahreszeiten-Zyklus, der mehr als nur kleine Beobachtungs- und Gedankenstückchen über die Alltagswelt sammelt: Karl Ove Knausgård schreibt nicht einfach nur persönliche Erinnerungs- und Offenbarungsstücke; er fundiert das alles mit vier offenen Briefen an seine seinerzeit noch ungeborene, jüngste Tochter. Schreibt also wieder auch über Linda, die Schwangerschaft, die Ängste … Intime Mitteilungen. Vor den Augen aller Welt. Ob das, wie unbestritten in weiten Teilen der Kampf-Romane, erzählerische Kraft, literarischen Zauber entfaltet? Dazu gleich.

    Ungleich spannender (und sicherlich reinster Zufall) ist, dass zeitgleich nun auch Linda Boström-Knausgård ihren ersten literarischen Auftritt in deutscher Übersetzung erhält. Er heißt „Willkommen in Amerika“, ist ein stilles, berührendes Werk und hat, so viel vorweg, gar nichts mit Karl Ove zu tun. Weiter von „Rache-Literatur“ könnte das Buch kaum entfernt sein, weil es etwas ganz und gar Eigenständiges ist. Wenn darin etwas Persönliches verarbeitet ist, dann die eigenen Erfahrungen Lindas als Tochter der schwedischen Schauspielerin Ingrid Boström. Das 13-jährige Mädchen in diesem Roman hat nämlich eine Theaterfrau zur Mutter – vor allem hat dieses Mädchen aber aufgehört zu sprechen. Weil sie die Trennung der Eltern und den Tod des Vaters nicht verkraften konnte? Weil sie dessen Gewalt in sich verschlossen hatte? Oder die Einschüchterungen durch den übergriffigen Bruder und die dominante Mutter?

    Linda Boström lässt ihr Mädchen über all das in kurzen, klaren Sätzen nachdenken, lässt die Macht und das Verhängnis dieses plötzlichen Schweigens inmitten der Familie schildern. Ein Kammerspiel, ein dünnes Buch, das in seiner Poesie aber einen tiefen, dunklen Sog entwickelt. Damit erzählt die Autorin womöglich gar nichts von sich selbst – und doch ist ein solches Buch ein Wagnis aus sich selbst. Weil diese erdachte Geschichte aus einer Seele schöpft, die sich darin offenbart.

    Im Kontrast Karl Ove. Der willkürlich nebeneinander gesetzt nachsinnt über die Äpfel damals bei der Oma, die Plastiktütenflut auf der Welt, rätselhafte Schweinswale, über, ja, „Pisse“, sein Verhältnis zu Schamlippen und die Kunst der Daguerreotypie. Auch über die Form von Toilettenschüsseln und das Existenzielle der Einsamkeit, die Unbegreiflichkeit des Kriegs und die Wirkung von Erbrochenem, die nur bei den eigenen Kindern nachlässt. Wir erfahren, dass „Madame Bovary“ für ihn „der beste Roman der Welt“ ist – weil: „Flauberts Sätze sind wie ein Putzlappen, der über ein von Abgasen und Schmutz völlig verdrecktes Fenster wischt, nachdem man sich seit langem daran gewöhnt hat, die Welt durch es zu sehen.“

    Knausgård gelingt mancher interessante Gedanke, dann und wann leuchtet ein Satz, in den besten Momenten tritt das Alltägliche in neuem Licht auf. Aber die eigentlich gar nicht herbstliche Willkür dieses Sammelsuriums und der oft befremdlich belehrende Ton lassen das Grundproblem nur noch stärker hervortreten: dass dies kein Buch für die Tochter und kein Buch für die Leser ist – sondern einfach nur ein Weiterschreiben. Über irgendetwas und sich selbst. Das eigene Nachdenken.

    So steht hier ein Buch mit dem Wagnis einer Beseelung neben einem mit dem Drang zur Verwertung. Sich selbst und der Welt abgerungene Literatur ist nur eines von beiden. Klarer Sieg für Linda Boström-Knausgård. Aber Karl Ove, sein Ich, wird wohl der Star bleiben.

    Karl Ove Knausgård: Im Herbst. Mit Bildern von Vanessa Barid, a. d. Norwegischen v. Paul Berf, Luchterhand, 288 S., 22 Euro. Auch der zweite Band der Reihe („Im Winter“) ist bereits erschienen (ebenfalls 22 Euro).

    Linda Boström Knausgård: Willkommen in Amerika. A. d. Schwedischen v. Verena Reichel, Schöffling, 144 S., 18 ¤

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