Der Frieden ist am 28. April 1945 in Penzberg nicht mehr weit: Der Lärm der amerikanischen Geschützfeuer dringen schon in die Stadt 50 Kilometer südlich von München. Im Radio muss man nicht mehr den Feindsender BBC eingestellt haben, um Nachrichten wie diese zu hören: „Die Freiheitsaktion Bayern hat heute Nacht die Regierungsgewalt erstritten! Arbeiter, schützt eure Betriebe gegen Sabotage durch die Nazis! Sichert Arbeit und Brot für die Zukunft!“ Das ist für Hans Rummer, der bis 1933 Bürgermeister der Stadt gewesen war, das Signal, den friedlichen Machtwechsel in die Wege zu leiten.
Schriftstellerin Kirsten Boie: Die Penzberger Mordnacht zeigt, wozu ganz normale Menschen fähig sind
Rummerr nötigt den von den Nazis eingesetzten Bürgermeister zum Rücktritt und übernimmt das Amt kommissarisch. Mit einigen anderen Männern will er das Bergwerk in Penzberg vor den „Hitleristen“ retten, die dem Feind nichts überlassen wollen. Doch zu stark ist der NS-Machtapparat noch, die acht Männer werden verhaftet und ohne Gerichtsverfahren am selben Tag in einem Waldstück erschossen. In der darauffolgenden Nacht werden weitere sieben Männer und eine Frau, die für Verschwörer gehalten werden, von Mitgliedern einer Werwolf-Gruppe erhängt.
Von den Eeignissen in Penzberg erzählt die Schriftstellerin Kirsten Boie in ihrem neuen Buch „Dunkelnacht“. Boie, bekannt für ihre Kinder- und Jugendbücher, von denen viele einen heiteren und leichten Ton anschlagen, stieß auf den Stoff durch die Lektüre von Harald Jähners „Wolfszeit“, 2019 ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. Als sie davon gelesen habe, habe sie gewusst, dass sie darüber schrieben müsse, sagt Boie, denn die Vorgänge in Penzberg zeigten, wozu ganz normale Menschen fähig seien. „Eine unmenschliche Politik betrifft am Ende selbst diejenigen, die glaubten, unbeteiligt bleiben zu können“, schreibt sie dazu in ihrem Nachwort zu dem Buch. Im Hinblick darauf, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten bei vielen Jugendlichen in Vergessenheit geraten oder gar Bewunderung hervorrufen sei es wichtig, Ereignisse wie die Penzberger Mordnacht ins Gedächtnis zu rufen.
Bewusst hält sich die Hamburger Autorin in ihrem Buch an die Fakten, ausgiebig recherchierte sie diese auch mit Hilfe der Archive in Penzberg und schnell habe sie von der Idee Abstand genommen, die Verbrechen nach Schleswig-Holstein zu verlegen, berichtet Boie. „Die Beglaubigung, dass es das wirklich gegeben hat, die spielt gerade für Jugendliche eine große Rolle. Dann erreicht man Jugendliche auf eine ganz andere Weise, als wenn man eine fiktive Geschichte erzählt“, erklärte sie in einem Interview,
Drei Jugendliche erzählen in Kirsten Boies "Dunkelnacht" aus ihrer Perspektive
Erfunden hat die Autorin jedoch drei jugendliche Figuren, aus deren Perspektive die Vorgänge geschildert werden. Marie ist die Tochter des örtlichen Metzgers, der zur Gruppe des einstigen Bürgermeisters gehört, und nur durch eine glückliche Fügung der Verhaftung entgeht. Zu Schorsch, dem Sohn des Polizisten, fühlt sie sich hingezogen, aber auch zu Gustl, der Mitglied der Untergrundbewegung „Werwolf“ ist. Marie und Schorsch werden Zeugen der Erschießungen und Lynchmorde.
In einer knappen Form webt Kirsten Boie in diesem kurzen Roman ein dichtes Netz aus authentischen Vorgängen und zarter Liebesgeschichte, stellt sie widerstreitende Gefühle und Haltungen dar. Von Beginn an kann sich der Leser diesem dichten Gewebe aus Fanatismus, Misstrauen und Furcht nicht entziehen. Denn zeugen auch die Fakten allein schon von Verrohung, Menschenverachtung und Verblendung, so gelingt es Boie, den Leser mit ihrer Sprache, einer Mischung aus knappen Schilderungen und emotionalen Refllektionen, zu erschüttern. „Der Mensch ist ein zerbrechliches Geschöpf, ein Wunder eigentlich, dass ihm nicht mehr passiert. Hat so eine dünne Haut nur, ist so verletzlich darunter. Hält nicht viel aus, der Mensch, mit seinem schwachen Genick, dauert nicht lange, ist aber auch nicht sofort, wer weiß, vielleicht hat er noch etwas gespürt, hat gezappelt, nur kurz.“
Welche juristischen Folgen die Verbrechen in Penzberg hatten, beschreibt Kirsten Boie in ihrem Nachwort. 1948 gab es einen Prozess gegen die Verantwortlichen, bei dem zwei Todesurteile und Haftstrafen verhängt wurden. Doch in Berufungsverfahren wurden die Angeklagten frei gesprochen. An die Opfer der Penzberger Mordnacht erinnern heute ein Gedenkstein und ein Raum im Museum. Kirsten Boie hat dem ein eindrückliches Buch hinzugefügt.
Das Buch: Kirsten Boie: Dunkelnacht. Oetinger, 112 Seiten, 13 Euro – ab 15 Jahren
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