Nein, die Irseer müssen sich keine Sorgen machen. Roman Ehrlich wird den ohnehin schon harten Kampf um das rare Bauland in der Marktgemeinde bei Kaufbeuren nicht zusätzlich verschärfen. Der aufstrebende Autor verbringt derzeit zwar einige Wochen in der idyllischen 1550-Einwohner-Kommune, um als Teil eines literarischen Experiments dort zu schreiben. Er habe aber „keine Ambitionen, hier ein Grundstück zu kaufen, ein Haus zu bauen – mir ein Mountainbike zuzulegen“, sagt er, während er durch das „Künstlerdorf“ mit seiner mächtigen ehemaligen Benediktinerabtei spaziert und unterwegs dem einen oder anderen neuen Bekannten freundlich zunickt.
Sein Roman "Malé" ist für den Deutschen Buchpreis nominiert
Er schätze das quirlige Leben an seinem üblichen Wohnort Berlin sehr, betont Ehrlich, der es mit seinem jüngsten Roman „Malé“ auf die Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Doch nun hat es ihn in eine Ferienwohnung im mittleren Ostallgäu verschlagen – und zusätzlich durch die Corona-Beschränkungen sieht sich der Literat in einer doppelten Laborsituation, in einem „absurden Spagat“. „Writing under observation“, also Schreiben unter Beobachtung, das ist es, was Ehrlich bis Ende Mai in Irsee praktiziert. „Das klingt ein bisschen wie Stasi“, sagt der Autor mit einem vielsagenden Grinsen. Er hat sich trotzdem auf diese akademische Versuchsanordnung eingelassen, die die Germanisten Kay Wolfinger von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Klaus Wolf von der Universität Augsburg sowie der Kulturhistoriker Günther Kronenbitter, der ebenfalls in Augsburg lehrt, konzipiert haben und für ihre Forschung und Lehre nutzen.
Dabei soll sich ein Autor, in diesem Fall eben Ehrlich, bewusst an einen Ort abseits des (literarischen) Trubels zurückziehen, um zu arbeiten. Aber gleichzeitig können Studenten und auch die Öffentlichkeit den Autor beim kreativen Prozess des Schreibens über die Schulter schauen. Die einen bei regelmäßigen Online-Seminaren, zu denen sich Ehrlich aus dem Ostallgäu zuschaltet, die anderen mittels des Internet-Blogs, den der „Landgastschreiber“, so die offizielle Bezeichnung, regelmäßig befüllt.
Der Landgastschreiber soll möglichst viele Bürger beteiligen
Dass für dieses Projekt Irsee ausgewählt wurde, hat vor allem damit zu tun, dass in den Räumen des hiesigen Klosterkomplexes die Schwabenakademie mit Studienleiterin Sylvia Heudecker angesiedelt ist, die sich mit dem Autorenwettbewerb „Irseer Pegasus“, mit dem Allgäuer Literaturfestival und demnächst zusätzlich mit einem Literaturfestival Nordschwaben auch um diese Kunstform in der Region kümmert. Finanziell gefördert wird das Vorhaben von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und vom Literarischen Colloquium Berlin im Zuge des Programms „Und seitab liegt die Stadt“. Dessen Ziel ist es, die Literaturvermittlung in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern zu stärken und „möglichst vielen Menschen Möglichkeiten zu eröffnen, kulturelle und gesellschaftliche Debatten mitzugestalten“, heißt es in den Leitlinien.
Eine Vorgabe, die der „Landgastschreiber“ Ehrlich während seiner sechs Wochen in Irsee gerne noch ambitionierter verfolgt hätte. Doch die Pandemie verhinderte bisher, dass er sich „einfach auf ein Bier in die Dorfkneipe setzen“ oder sonst mit seinem neuen Umfeld auf Zeit direkt und spontan auseinandersetzen kann. Eine geplante Lesung musste abgesagt werden, aber zumindest ein kleines Plakat am Irseer Bürgerhaus informiert darüber, an welchen Tagen Ehrlich in der neuen Dorfbücherei mithilft. Und auch seine Spaziergänge durch den Ort und die Umgebung verhelfen ihm immer wieder zu Eindrücken und Gesprächen.
„Das Leben ist auch in kleinsten Verbänden komplex“, hat der Autor festgestellt. Auf dem Dorf – und ganz besonders in Irsee – etwa durch die klare Abgrenzung der Alteingesessenen gegenüber den Zugezogenen. Völlig neu und fremd ist Ehrlich das alles freilich nicht. Er wurde 1983 in Aichach geboren und ist in Neuburg an der Donau aufgewachsen. Bei Ausflügen ins wenige Kilometer von Irsee entfernte Kaufbeuren stellte er jetzt wieder fest: „Es fühlt sich ähnlich an.“ Er erinnerte sich an die kleinstädtischen Strukturen, denen er sich durch seine Studien in Leipzig und Berlin und durch sein literarisches Wirken „schon bewusst entzogen“ habe.
Die Irseer Klosteranlage empfindet Roman Ehrlich als düsteren Ort
Als „Landgastschreiber“ plane er trotzdem ausdrücklich „keinen Enthüllungsroman über das Landleben“, auch wenn Roman Ehrlich das in seinem Blog augenzwinkernd androht. Irsee ist für Ehrlich „ein Ort, an dem ich mich konzentrieren kann“ und an dem er natürlich auch Motive und Themen findet. Wie immer ist er auf der Suche nach „Potenzialen in der Wirklichkeit“. Letztere sollen aber nie direkt in seine Texte einfließen, alles „muss durch die Fiktion“, durch Ehrlichs literarische Filter, damit das Allgemeingültige, aber auch Irreale übrig bleibt. Umgesetzt in einer überaus kunstvollen Sprache, die der Autor „immer neu betrachten und entdecken“ will.
Für seinen Erfolgsroman „Malé“, der in einer nahen Zukunft eine skurrile Truppe von Aussteigern in der untergehenden Hauptstadt der Malediven versammelt, sei er auch nicht auf die Inselgruppe im Indischen Ozean gereist. In dem Buch gehe es um „Projektionen“, die Menschen mit bestimmten Orten oder Situationen in Verbindung bringen, und nicht um penibel exakte geografische Beschreibungen, erklärt Ehrlich, während sein Blick von oberhalb über die Irseer Klosteranlage schweift.
Das bei Ausflüglern und Tagungsgästen beliebte barocke Ensemble empfindet Ehrlich als „düsteren Ort“. Die Aufarbeitung der in der dort untergebrachten Psychiatrie verübten Krankenmorde während der NS-Zeit fasziniert ihn. Ein Ort also, der durchaus auch als ein literarisches Filtrat in den nächsten Text von Ehrlich einfließen könnte. Viel Stoff für die akademischen Beobachter des „Landgastschreibers“. Eine Stunde später steht schon die nächste Videokonferenz mit observierenden Studenten und Professoren an.
Roman Ehrlich verfasst ein Blog über seine Zeit in Irsee unter www.landgastschreiber.de
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