Sieben Jahre wollte es nicht klappen mit neuen Songs. So hat das Bruce Springsteen in einem Interview kurz vor Erscheinen seines neuen Albums „Letter To You“ erzählt. Sieben Jahre wollte er neue Songs für sich und die E-Street-Band schreiben, dann schenkte ihm 2018 ein Fan aus Italien nach einem Auftritt eine Gitarre, eine, die extra für ihn in Italien angefertigt worden sei. Springsteen ließ sich überreden, nahm das Instrument mit, legte es bei sich zu Hause aber erst einmal auf die Seite, rührte es nicht an. Dann, im April 2019, kam ihm diese Gitarre wieder in den Sinn, er schnappte sich das Instrument, spielte es und plötzlich waren da Ideen. In nicht einmal zehn Tagen schrieb Springsteen nun die neuen Songs für „Letter To You“. Im Interview sagte er, dass die Lieder nicht aus ihm, sondern der Gitarre gekommen seien.
"Letter To You" ist ein Gemeinschaftswerk mit Springsteens E-Street-Band
Anscheinend hat er sich das auch im Anschluss zu Herzen genommen. Denn als es dann ums Aufnehmen ging, wollte er der E-Street-Band nicht gleich die Ideen präsentieren, wie er das arrangieren würde. Stattdessen machte er das mit der Band gemeinsam im Studio; zuletzt haben der Boss und die E-Street-Band in den 1980er Jahren für das legendäre Born-In-The-USA-Album so zusammengearbeitet. In nur vier Tagen haben Springsteen und die E-Street-Band die zwölf Songs von „Letter To You“ in ein rundes, stimmiges, gelungenes Album verwandelt. Musikalisch geht das in etlichen Nummern schnell voran. Dieser satte und so typische Springsteen-E-Street-Band-Sound klingt nicht schwer, sondern hat an vielen Stellen etwas leichtes, überraschendes, klares. Dass da ein 71-Jähriger singt, dass auch die ganze Band in die Jahre gekommen ist, hört man an keiner Stelle. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass diese Musiker schnellstens wieder auf große Stadion-Tournee gehören. Das hat Power, das versprüht die reine Lust an der Musik.
Worum geht es in den Stücken? Wer glaubt, dass sich der Boss dezidiert zur Lage der Nation äußert, dass er mit den Songs Wahlkampf betreibt, der wird nur bedingt fündig. Es wird zwar an zwei Stellen („House Of A Thousand Guitars“ und „Rainmaker“) politisch auf dem Album, aber nach Wahlkampf klingt das nicht. In „House Of A Thousand Guitars“ taucht ein krimineller Clown auf, der den Thron gestohlen hat. Klar kann man da schnell an Donald Trump denken. Aber Springsteen geht es im Anschluss darum, in diesem Haus der 1000 Gitarren einen Ort zu schaffen, an dem alle Menschen zusammenkommen. In der Musik sollen sich jenseits aller Polarisierung die Menschen als Schwestern und Brüder begreifen. Gleich im Anschluss klagt Springsteen in „Rainmaker“ die Regenmacher an, die nur Lügen erzählen und falsche Hoffnungen wecken, die das Land nicht zum Blühen bringen, weil sie nicht wissen, was das Land benötigt.
Ein Song, der dem Tod etwas entgegen setzt
Jenseits dieser beiden Songs von einem politischen Album zu sprechen, wäre aber bei „Letter To You“ übertrieben. Dort finden sich andere Motivstränge: Gleich zu Beginn kommt da fast schon ein Schocker, weil „One Minute You‘re Here“ musikalisch so ruhig und elegisch beginnt, aber der Zug, von dem in dem Song die Rede ist, donnert geradewegs auf das singende Ich zu, während das Du des Songs bereits im Jenseits weilt.
Ein solches „Du“ findet sich ebenfalls in „Last Man Standing Now“ und in „Ghosts“. Dort wird klar, wen Springsteen konkret gemeint haben könnte: Den Sänger und Gitarristen George Theiss, mit dem Springsteens Karriere in den 1960er Jahren bei den „Castiles“ begann, als Springsteen noch ein Teenager war und Theiss mit Springsteens Schwester angebändelt hatte. Jetzt ist Springsteen der letzte Musiker seiner ersten Band, der noch am Leben ist. Das macht aus „Last Man Standing Now“ einen unheimlichen und unheimlich starken Song gleichzeitig, weil diese fröhlich treibende Musik dem Wissen abgetrotzt ist, der letzte und nächste zu sein. Wenn Springsteen in „Ghosts“ im Refrain fast schön beschwörend intoniert, noch am Leben zu sein, klingt das wie ein Mantra, um dem Tod mit all seinen dunklen Gedanken etwas entgegenzusetzen.
Lieder aus den frühen 1970er Jahren
Unter die neuen Songs hat Springsteen dann noch drei alte, bislang noch nicht auf einem richtigen Album veröffentlichte Lieder aus den frühen 1970er Jahren. Fast sieben Minuten dauert „If I Was A Priest“, die großen katholischen Themen hat der junge Springsteen darin in den Wilden Westen zwischen Saloon, Bordell und Schießerei verfrachtet – eine Perle auf dem Album. Der Titelsong „Letter To You“, der schon als Single und im Video vorab veröffentlicht worden ist, klingt wie das Programm für das ganze Album. Diesen Brief schreibt jemand mit Blut und Tinte, schreibt über gute und schlechte Zeiten, jenseits aller Selbstdarstellung, da schreibt ein Mensch darüber, wie das Leben in seiner ganzen Bandbreite mit all seinen Ausschlägen ist. Man kann nur hoffen, dass Springsteen bald wieder so ein magisches Instrument in die Hände bekommt, das ihm ein paar neue Songs schenkt.
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