Was für ein reiches, verschwenderisch geführtes, freigiebiges Leben! Leonard Bernstein war Amerikaner, Jude, Komponist, Pianist, Musikvermittler, Ausdrucks- und Bekenntniskünstler. Wenn er dirigierte, etwa 1987 im Münchner Kongresssaal des Deutschen Museums oder 1989 nach dem Fall der Mauer in Berlin, dann verströmte er Wärme und Weltumarmung, dann verströmte er im Prinzip – bei aller Skepsis über (gesellschafts-)politische Entwicklungen – ein großes „Ja“ zur Schöpfung.
„Freiheit schöner Götterfunken“
Und er verströmte bei Schuberts großer C-Dur-Sinfonie und Beethovens Neunter, in der er 1989 „Freiheit schöner Götterfunken“ singen ließ statt „Freude schöner Götterfunken“, ein hinreißendes Rhythmusgefühl – durchaus auch abgeleitet von einem Jazz-Genre seiner Nation, vom Swing.
Hinter der Bühne aber wartete jedes Mal sein Manager mit einer bereits glimmenden Zigarette und einem Glas des geliebten Whiskeys, wovon Lenny erst einmal zwei Züge nahm, bevor er sich der schier grenzenlosen Liebe des Auditoriums stellte. Und wenn es einmal nicht so klappte mit ausstrahlender Umarmung von Musik, Orchester und Publikum, dann war Bernstein auch bereit zu konzedieren: „I didn’t achieve, ich hab’s nicht geschafft.“
Weiße Präsidentenfamilie, schwarzes Dienstpersonal
Ja, Bernstein war ein Süchtelnder. Das Leid seines Lebens bestand bei seinen riesigen Begabungen, Wünschen und Beglückungsabsichten darin, nicht alles in dem Maße pflegen zu können, in dem er es hätte pflegen wollen: das Komponieren und Dirigieren und Klavierspielen, die Familie und die begeisternde Mentoren-Tätigkeit, dazu sein politisches Engagement und die reine Freude am Leben und am Menschen, zu der auch seine Bisexualität gehörte.
Lenny Bernsteins Herz war groß und voll und schlug demokratisch und liberal für die Würde aller Menschen. Bedauerlich, dass seinem Musical „1600 Pennsylvania Avenue“ nicht derselbe Welterfolg beschieden war wie seiner genialen jazzdurchtränkten „West Side Story“ (1957). „1600 Pennsylvania Avenue“ – die Adresse des Weißen Hauses – widmete sich in Folge von Nixon und Watergate dem Alltag (weißer) Präsidentenfamilien mit schwarzem Dienstpersonal.
Wie man verführerisch die Ohren öffnet
Dem begnadeten Musiker Bernstein, geboren am 25. August 1918 als Sohn einer ukrainisch-jüdischen Einwandererfamilie in Lawrence/Massachusetts, stand der begnadete Musikvermittler Bernstein gegenüber: Legendär jene Vorlesungen und TV-Lektionen über klassische Musik, die geradezu verführerisch die Ohren öffneten für die Sinfonik des 19./20. Jahrhunderts.
Mit pädagogischem Charisma gewann er junge Menschen für die Kunst und bildete die Älteren fort. Bernstein wusste genau, was er tat. Über seinem Bett hing einst ein Zettel mit den folgenden Worten jüdischen Humors: „Hätte Gott gewollt, dass die Menschen in Konzerte gehen, hätte er ihnen auch Eintrittskarten gegeben.“ Am 14. Oktober 1990 war Lenny, verausgabt, tot.