Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Leipziger Buchpreis: Happy End für deutsch-deutsches Leben?

Leipziger Buchpreis

Happy End für deutsch-deutsches Leben?

    • |
    Helga Schubert gewann 2020 den Bachmann-Preis.
    Helga Schubert gewann 2020 den Bachmann-Preis. Foto: dpa

    Von je weiter weg man auf ein Leben blickt, umso klarer erscheint es einem – hier die großen Linien, da ein Bruch. Je näher aber man darauf schaut, umso mehr verzweigt es sich, verliert sich die einfache Struktur ... „Nichts ist klar so oder so, erfahre ich beim Schreiben oder spätestens beim Lesen“, schreibt Helga Schubert, 81 Jahre, in ihrem Buch „Vom Aufstehen“, in dem sie sehr genau auf ihr eigenes Leben schaut, es in 29 Geschichten packt, verrückte Wendungen nachmalt, es in feinsten Verästelungen strichelt.

    Mit der titelgebenden Geschichte gewann Helga Schubert im vergangenen Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. 40 Jahre, nachdem sie zum ersten Mal eingeladen worden war, aber der DDR-Schriftstellerverband ihr die Reise nach Österreich verbot. Auch das also schon wieder eine fast märchenhafte Geschichte. Am Freitag nun, wenn der Leipziger Buchpreis vergeben wird, könnte die nächste Auszeichnung dazukommen.

    Vier Frauen und ein Mann sind in der Sparte Belletristik nominiert. Vier Romane und ein Lyrikband. Drei davon bereits Bestseller, auch der Erzählungsband von Schubert. Alle Nominierten sind über 50, erfahrene Stimmen also, Friederike Mayröcker mit 96 die Älteste.

    Alle sind sich einig: Helga Schuberts Buch ist preiswürdig

    Warum dieser Blick auf die Zahlen, die Verteilung? Weil sich daran oft die Kritik entzündet. Wie viele Frauen, wie viele Männer, welches Alter, welche Herkunft, welche Themen … In diesem Jahr bemängelten in einem offenen Brief Schriftsteller und Germanisten, vor allem aus dem englischsprachigen Ausland, dass sich unter den Nominierten in keiner Sparte schwarze Autorinnen und Autoren fänden. Das empfände man, so schreiben sie in dem in sehr freundlich gehaltenen Brief, zumindest als „problematisch“. Und wie immer gibt es nun ja auch tatsächlich Romane und Themen, die man vermissen kann: Zum Beispiel Mithu Sanyals „Identitti“, eines der viel diskutierten Bücher des Frühjahrs. Wen oder welches Buch aber dann streichen? Einig nämlich sind sich die Unterzeichner des Briefes auch darin: dass alle jetzt Nominierten und ihre Bücher preiswürdig seien: also Christian Kracht mit „Eurotrash“, Iris Hanika mit „Echos Kammern“, Friederike Mayröcker mit „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“, Judith Hermann mit „Daheim“ und eben Helga Schubert.

    Deren Biografie klappentextartig in wenigen Worten erzählt: Diplompsychologin, verheiratet mit dem Psychologen, Maler und Schriftsteller Johannes Helm. Als Autorin machte sie sich mit Erzählungen, Kinderbüchern, Romanen, Hörspielen und auch Märchen und Theateradaptionen einen Namen. 1987 bis 1990 war Schubert Jurorin beim Bachmann-Preis. Als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches bereitete sie die ersten freien Wahlen in der DDR mit vor. 2008 zog sie von Berlin ins Dorf Neu Meteln in Nordwestmecklenburg, eröffnete mit ihrem Mann eine Galerie, veröffentlichte nichts mehr. Ihre Nachbarin dort war Christa Wolf, keine Freundin jedoch, das aber wieder eine andere Geschichte …

    Und nun also, fast zwanzig Jahre nach der letzten Veröffentlichung, kehrt Helga Schubert zurück in den Literaturbetrieb mit diesem Erzählband, in dem sie das eigene Leben, Beobachtungen, einzelne Momente zu Literatur verwandelt. So genau hinsieht, wie es vielleicht tatsächlich nur mit dem eigenen Leben geht. Und dabei aber natürlich viel mehr als die eigene, nämlich Kriegs-, Nachkriegs-, DDR-, deutsch-deutsche Geschichte erzählt. Unpathetisch, anrührend, nachdenklich. Manchmal auch hinreißend komisch. Keine Schnörkel.

    Helga Schubert erzählt von ihrem gespannten Verhältnis zur Mutter

    Es sind einzelne Passagen, die aus diesem so unprätentiös geschriebenen Buch sich im Gedächtnis festhaken. Wie die junge Mutter, junge Witwe, bei den Schwiegereltern am Kriegsende Zuflucht findet, das Kind Helga todkrank, ihr der Schwiegervater Gift gibt, für den Fall, dass die Russen vor der Tür stehen. Aber die Mutter weigert sich: Dann müsse sie erst das Kind vergiften, das könne sie nicht. Viele Jahre später stehen die beiden Frauen in der Küche, die Mutter Mitte vierzig, Helga Anfang zwanzig, man hat sich wegen Geld gestritten und die Mutter sagt: „Wenn du doch damals nach der Flucht gestorben wärst.“

    Diese schwierige Beziehung zur abweisenden, oft grausamen Mutter ist das zentrale Thema des Buches, ein lebenslanger Schmerz, und er treibt die Ich-Erzählerin mit über 70 noch zu einer Pastorin, der sie gesteht, sie könne das vierte Gebot nicht befolgen. Sie könne ihre Mutter nicht lieben. Müsse sie auch gar nicht, sagt die Pastorin, stehe in der Bibel nämlich anders: nur ehren! Genau das macht Helga Schubert in diesen Geschichten. Nichts wird verklärt, beschönigt, aber sie demontiert die Mutter auch nicht, sucht zwischen all den Scherben nach etwas, mit dem man vielleicht an einigen Stellen etwas kitten könnte. Manches liest sich in seiner Schrägheit dann auch fast liebevoll. Dass die Mutter, die im Krieg alles verloren hat, sich nach der Einheit wieder etwas von den einstigen Besitztümern anschaffen möchte: für 24000 DM ein Lexikon kauft, das aber schon bald nur ein paar Hunderter wert ist.

    Durch den späten Preis hat Schubert einige Geschichten umgeschrieben

    Ihren genauen Blick lässt Helga Schubert über sich und die anderen schweifen, rüber zu den Nachbarn, übers ganze Land. Erzählt von der unbändigen Reisesehnsucht, der Nacht des Mauerfalls, Dramen, Absurditäten. Manchmal reichen ihr zweieinhalb Seiten: Als sie mit ihrem Sohn nach einer Lehrstelle sucht, in einem Institut für Forstpflanzenzucht vorspricht, fragt der Direktor noch im Stehen nach Westverwandtschaft. Dann könnten sie gleich wieder gehen. Das hier gehegte so wertvolle Geheimnis der Lärchenproduktion müsse schließlich sicher bleiben!

    Dass sie damals, vor über 40 Jahren, nicht nach Klagenfurt reisen konnte, ist ebenfalls beiläufig Thema einer Erzählung. Heute, nach dem Gewinn des Bachmann-Preises, sieht sie das Ganze so. Die Geschichte sei viel besser als die, die sie damals gelesen hätte. „Es ist eine gute Fügung, erst mit 80 eingeladen zu werden. Da hat man mehr Auswahl.“ Der Preis wiederum brachte sie dazu, einige Erzählungen für den jetzt vorliegenden Band um-, andere ganz neu zu schreiben. Ob sie damit nun heute gewinnt oder nicht, es bleibt eine umwerfende Geschichte.

    Helga Schubert: Vom Aufstehen. dtv, 222 Seiten, 22 Euro

    Das könnte Sie auch interessieren:

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden