Irgendwo hängte immer ein Krokodil. Das sorgte wahrscheinlich für den gewissen Grusel. Und man hält heute noch kurz die Luft an, wenn man auf der Burg Trausnitz in Landshut oder in den Franckeschen Stiftungen zu Halle unter so einer Riesenechse steht. Ausgestopfte Tiere, möglichst aus fernen Ländern, Korallen, Straußeneier und rare Edelsteine gehörten in den Wunderkammern der frühen Neuzeit zur Grundausstattung.
Fortschrittliche Adlige und betuchte Großbürger wollten damit Weltläufigkeit demonstrieren, dazu Neugier und Entdeckergeist, Reichtum, Bildung und Beziehungen. Das gesamte Wissen der Menschheit in einem einzigen Raum zusammenzuführen, war das Ziel. Und da durfte so ziemlich alles herhalten, was fremd und geheimnisvoll aussah und außerdem nach Kunst und Können roch. In Silber gefasste Kokosnüsse, chinesisches Porzellan, Himmelsgloben, Totenschädel, Wachsfiguren, Teller aus Perlmutt, Spieluhren – je vielfältiger eine solche Kammer bestückt war, desto besser.
In den Wunderkammern fand sich das große Ganze
Und jeder Bereich sollte abgedeckt sein, von der Astrologie bis zur Alchemie, Bildhauerei und Schnitzkunst, Geologie und Botanik. Man könnte die Reihe schier endlos fortführen, denn von Spezialisierungen war man noch weit entfernt. Und im Fokus stand das große Ganze. Allerdings wurden fast alle fürstlichen Kunst- und Wunderkammern nach vier Kategorien eingeteilt: Da wären die Naturalia, unter denen man die Phänomene aus der Natur wie etwa Steine und Wurzeln für Heil- und Zaubertränke fasste. Sehr begehrt waren Anomalien jeglicher Art. Als Exotika wurden Mitbringsel aus neuen Welten bezeichnet. Astrolabien, Landkarten und Kompasse fielen unter die Scientifica und kunsthandwerklich Herausragendes wie Bergkristallbecher sowie gedrechselte Contrefait-Kugeln (mit weiteren Exemplaren im Inneren) unter die Artificialia.
Wobei die intellektuelle, empirische und künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen zugleich den Ausgangspunkt moderner Wissenschaft bildete. Nicht zuletzt gehen auch die heutigen Museen auf diese zunächst privaten Kollektionen zurück. Die Wittelsbacher sind dafür ein schönes Beispiel, denn der bayerische Herzog Albrecht V. begann Mitte des 16. Jahrhunderts geradezu manisch zu sammeln – sein Sohn Wilhelm richtete auf der erwähnten Burg Trausnitz die „Junge Kunstkammer“ ein.
Dann spielen die Habsburger eine wichtige Rolle und hier besonders Rudolf II. und Erzherzog Ferdinand II., der Benvenuto Cellinis berühmtes Salzfass, die goldene Saliera mit Neptun und Tellus, vom französischen König erhielt. Oder die Medici in Florenz. Man bringt die Händler- und Bankiersdynastie vor allem mit den großen Künstlern der Renaissance in Verbindung, doch ihr Interesse galt genauso mechanischen Automaten, silberverzierten Nautiluspokalen und immer wieder Elfenbein.
Italienischer Fotograf Massimo Listri zeigt Einblicke in Wunderkammern auf 350 Seiten
Zum Besten zählen übrigens die sogenannten Coburger Elfenbeinarbeiten. Das sind 27 Pokale, die zwischen 1618 und 1631 für den Herzog von Coburg geschaffen wurden und die Mattias de’ Medici 1632 im Dreißigjährigen Krieg bei der Plünderung der Stadt „erworben“, besser erbeutet hat. Jedenfalls schmücken sie heute die Schatzkammer der Großherzöge im Palazzo Pitti in Florenz.
Auf ausklappbaren Tafeln kann man diese filigranen Objekte in Massimo Listris neuem „Buch der Wunderkammern“ bis ins kleinste Detail verfolgen. Wobei man eher von einem Fünf-Kilo-Prachtwälzer sprechen sollte. Auf über 350 Seiten breitet der Fotograf aus Florenz die bedeutendsten Stücke aus 19 Sammlungen aus, für die er mehrere Jahrzehnte in sieben Ländern Europas unterwegs war. Das reicht naturgemäß von einigen italienischen Beispielen bis zum Dresdner Grünen Gewölbe, in das im November brutal eingebrochen worden war. Listri macht natürlich auch in Wien, Paris und London halt, auf Schloss Ambras bei Innsbruck mit seinen bizarren Haarmenschen und einem feingliedrigen Hans-Leinberger-„Tödlein“ und auch im Norden, in Uppsala, wo sich das Museum Gustavianum befindet.
Dort wird eine verblüffende „Reise-Wunderkammer“ aufbewahrt. Die erhielt der schwedische König Gustav Adolf II. von den Augsburgern, kurz bevor er 1632 in der Schlacht bei Lützen fiel. Dieses multifunktionale Ebenholzmöbel, gebaut ursprünglich für den Augsburger Kunstagenten Philipp Hainhofer, lässt sich in einen Toilettentisch oder eine Apotheke verwandeln; es enthält einen Altar, Musikinstrumente, ein Schachspiel und noch viel mehr. Von der opulenten Bekrönung und den Einlegearbeiten aus Elfenbein, Email und bemaltem Alabaster ganz zu schweigen.
Erlesen musste es sein, außergewöhnlich, so selten wie die mit Gold aufgewogenen Einhörner, die tatsächlich erst 1638 vom dänischen Naturforscher Ole Worm als Narwalzähne entlarvt wurden. Ohne Zweifel sollte das meist planvoll arrangierte Inventar den Geist anregen. Schließlich wurde in diesen Kammern disputiert, sinniert und studiert, daher war ab der Mitte des 16. Jahrhunderts auch vom „studiolo“ die Rede. Und was den Seefahrern und Weltentdeckern vor die Augen kam, wurde hier für einen auserwählten Kreis zusammengetragen und präsentiert. Ein ganzer Kosmos befand sich oft genug in einem solchen Kabinett – man war sich im 17. Jahrhundert der Unendlichkeit des Universums sehr wohl bewusst und hatte genauso das mikroskopisch Winzige im Blick.
Massimo Listri: „Das Buch der Wunderkammern“ (Taschen Verlag, 350 Seiten, 100 Euro)