Haben Sie's gemerkt? Schauen Sie das Bild noch mal an. Immer noch nicht? Das ist nicht die "Mona Lisa", die Sie kennen. Wir haben sie seitenverkehrt abgedruckt. .
Denn Hirnforscher sagen, dass uns dieses Gesicht so berührt, weil es uns befremdet. Unsere rechte Gehirnhälfte ist fürs Verarbeiten von Empfindungen zuständig, weshalb Künstler ihre linke Bildseite entsprechend komponieren. Nicht Leonardo da Vinci: Beim ihm sehen wir alles Gefühl bis zum lächelnden Mundwinkel rechts auf dem Gemälde. Das verstört, drum haben wir's umgedreht. Wollten ja nicht, dass es Ihnen mit dieser Seite ergeht wie jenem Ugo Villegas am 30. Dezember 1956 mit dem Original: Stundenlang stand der im Louvre wie versteinert davor. Und als wieder Bewegung in ihn kam, dann, weil er einen Stein auf das Gemälde schleuderte.
Er traf, es war bereits das zweite Attentat in diesem Jahr - und traf doch nicht die Mona Lisa. Die ist nämlich gar nicht auf dem Bild. Wie das? Das kann nur die Geschichte beantworten, die hinter dem Gemälde steckt. Denn es gibt eine neue, vielleicht ja endgültige, die auch für das Lächeln erklärt. Sie erzählt, warum nicht "M(ad)on(n)a Lisa" del Giocondo, die Frau eines Kaufmanns, Motiv ist. Sie erklärt auch alle anderen Zuweisungen für ungültig: die, dass sich da Vinci versteckt selbst porträtiert habe; die, dass er eigentlich seinen Lieblingsjüngling Salai gemalt hat; die, dass es ein Idealbild der Frau an sich sei oder die bezaubernde Isabella d'Este. Gegen all diese hat sich nun die charmanteste aller Erzählungen gestellt. Und wenn sie denn stimmt, dann hat alles in diesen Tagen vor 500 Jahren begonnen. Damals regte sich im Schoß einer Dame etwas, das für sie eine Katastrophe war, aber der Grund für das berühmteste Gemälde der Welt werden sollte: ein Kind.
Die Kunstgeschichte sagt: Es ist eine geniale Bildfindung des Meisters Leonardo aus Vinci. Wie er die Frau im Halbprofil ins Zentrum des Bildes setzt, sie aus einem anderen Blickwinkel malt als die jenseitig anmutende Landschaft, die wiederum links von ihr mit einem anderen Horizont als die rechts von ihr; wie er die Winkel an Augen und Mund verwischt, sodass wir diese charakteristischen Stellen hinzudenken; wie er die Augen ebenfalls aus zwei Perspektiven malt, sodass diese Frau ihren Betrachter immer zu fixieren scheint. Doch für uns so Fixierte bleibt die Frage: Wem gilt dieser Blick? Wem dieses Lächeln? Und die Antwort ist: diesem Kind.
So erzählt es jedenfalls Roberto Zapperi, wohl der renommierteste Renaissance-Forscher der Gegenwart. Er als Historiker hat sich mit seinem Buch "Abschied von Mona Lisa - Das berühmteste Gemälde der Welt wird enträtselt" (C.H. Beck, 170 S., 19,95 ¤) eingemischt in eine Debatte, die kunstgeschichtliche Bibliotheken füllt. Es scheinen gerade die berühmtesten Bilder auch die rätselhaftesten zu sein. Oder sind es die rätselhaftesten, die zu den berühmtesten werden?
Gehen wir in die Ausstellung eines zeitgenössischen Künstlers, wundern wir uns schon gar nicht mehr, dass wir mit den Spuren auf Leinwand, Dingern, die da rumstehen, erst mal nichts anzufangen wissen. Vielleicht trifft uns eine Idee, befremdlich oder pfiffig genug - aber ob das alles was bedeutet? Wohltuend dagegen die alten Meister, da scheint alles offen zu liegen. Da Vinci oder Dürer: Wir sehen, dass sie unglaublich versierte Handwerker waren an der Art, wie sie den Pinsel führen; wir sehen, welch genaue Beobachter und gewiefte Bildkomponisten sie waren, daran, dass sie unseren Blick leiten und unser Gefühl berühren. Hier verstehen wir. Ach ja?
Gerade die Bilder der alten Meister sind oft viel komplexer als sie scheinen
Meistens erkennen wir nur Gegenständliches wieder und haben sonst keinen Schimmer vom nicht selten komplexen Bildprogramm. Das Gemälde "La Primavera" von Botticelli zum Beispiel. Heißt so, weil man es lange für eine Allegorie auf die Jahreszeit Frühling hielt - dabei ist es tatsächlich (das wunderbare Buch von Horst Bredekamp "Sandro Botticelli, Primavera - Florenz als Garten der Venus", Wagenbach, 128 S., 11,90 Euro beweist es) eine literarisch wie philosophisch hoch verdichtete, verbildlichte Wohlstandsverheißung für die Stadt Florenz. Oder "La Tempesta" (Das Gewitter) des wie Botticelli vor 500 Jahren gestorbenen Giorgione: Es gilt bis heute als völlig unenträtselt.
Roberto Zapperi sagt: Der Historiker könne nur ein Netz mit möglichst engen Maschen auswerfen, mit dem er das Stückchen Wahrheit, das überhaupt erreicht werden kann, herauszufischen sucht. Ein solches Netz hat er auch bei der vermeintlichen Mona Lisa ausgeworfen, mit unendlichen Recherchen Maschen geknüpft, an deren Ende der Fang steht: dieses Kind.
Später wird er Ippolito de' Medici heißen, als Sprössling der bedeutendsten Florentiner Familie dieser Zeit gelten. Er wird Kardinal werden. Vor jetzt 500 Jahren aber macht er der Frau, in deren Bauch er heranwächst, größte Sorgen. Pacifica Brandani wurde unehelich geboren, hat es aber geschafft, sich spätestens durch ihre Heirat zu etablieren. Sie verkehrt am Hof von Urbino. Doch das Kind, das sie erwartet, ist nicht von ihrem Mann.
An jenem Hof nämlich treibt sich auch Giuliano de' Medici herum, ein verschwenderischer, liebenswerter Herr mit feinem Bart, ein Herzensbrecher, genannt "il magnifico", der Prächtige. Ihm ist Pacifica wie so viele andere verfallen - und sagt ihm doch nichts von dem, das sie erwartet und dann heimlich gebiert. Ein Freund Giulianos ist es, der der Geschichte auf die Spur kommt und "il magnifico" informiert. Und wie es die Medici immer pflegten, kümmert sich auch Giuliano um seinen unehelichen Sohn, auch für den Fall, dass ihm keine ehelichen mehr folgen sollten. Ippolito kommt in eine Pflegefamilie, während der Vater um Bedeutung ringt und sie erhält, als sein Bruder Papst wird. In seiner Prunksucht nimmt Giuliano den größten Künstler seiner Zeit in Dienst, den schon über 60-jährigen Leonardo. Pacifica Brandani aber ist da schon tot.
Der kleine Ippolito ahnt von alledem nichts und denkt, sein Vater bringe endlich die Mama mit nach Hause, als der abreist, um Filiberta, die Prinzessin von Savoyen, zu heiraten. Giuliano weiß, dass sich weder seine neue Frau auf diese Mutterrolle einlassen wird, noch er seinen Sohn mit der ganzen Härte der Tatsachen konfrontieren will. Doch "il magnifico" hat eine Idee. Es ist das Jahr 1515, als er Leonardo beauftragt, ein Porträt zu malen für den Jungen, ein Porträt der Mutter, die darauf ihren Sohn liebevoll grüßt, als wäre sie nur verreist und sehnsüchtig zurückzukehren. Es ist unser Bild, das Leonardo nun malt, ohne die zu porträtierende je gekannt zu haben. Ein Bild der "Mona Lisa" hatte er Jahre zuvor begonnen, als sein Geld knapp war, es aber nie vollendet. Diesen Auftrag nun führt er aus. Er malt eine Mutter, die ideale Mutterfigur. Dem Jungen zum Trost. Deshalb lächelt sie so. Doch der Junge erhält das Gemälde nie. Giuliano stirbt vor Vollendung des Werks und Leonardo behält das Gemälde.
Wie nun nennen dieses Bild, wenn nicht Mona Lisa? Sein zweiter Name bleibt: "La Gioconda". Weil damit nie die im Italienischen so nicht existierende Verweiblichung des Ehenamens Giocondo gemeint war, sondern immer die Übersetzung: "Die Tröstende", "Die Liebenswerte". Und Leonardo hat sie in einem heute fast unsichtbaren Schleier gemalt, einem Schleier, den erst vor vier Jahren Röntgenaufnahmen des Bildes offenbarten. Er stand damals nicht für Trauer, sondern zierte, die Schwangere, die werdende Mutter. Wolfgang Schütz