Vor neun Jahren, Mitte Juli 2012, veröffentlicht ein leicht übergewichtiger Mann mit schwarzer Gelmatte und Sonnenbrille im Internet einen Song, den seither beinahe jeder Mensch auf der Welt schon einmal gehört hat. Auf Youtube hat „Gangnam Style“ – ein quitschebuntes und gut gelauntes Musikvideo – beim heutigen Stand mehr als 4,2 Milliarden Aufrufe und über fünf Millionen Kommentare erzielt. Einer davon lautet: „Ohne es zu realisieren, haben wir K-Pop gehört, seit wir sieben Jahre alt sind.“ Weltweit sind unzählige Menschen mit dem südkoreanischen Hit des Künstlers PSY groß geworden. Aber wenige werden zu diesem Zeitpunkt schon geahnt haben: Aus Korea kommt etwas auf uns zu.
Heute ist dieses Etwas längst angekommen. Es trägt den Namen „Hallyu“ und bedeutet übersetzt in etwa so viel wie „Koreanische Welle“. Sinngemäß umschreibt der Begriff die weltweit steigende Begeisterung für koreanisches Essen, für Musik, Film, Mode und Kunst. In Asien rollte diese Welle bereits vor Jahren an. Aber auch in Europa steht die Kulturmarke Südkorea mittlerweile hoch im Kurs.
Aktuell sorgt die Netflix-Serie „Squid Game“ international für Furore
Als der südkoreanische Regisseur Bong Joon Ho im Februar des vergangenen Jahres in Los Angeles auf der Bühne steht, wirkt er perplex. Gerade hatte sein Film „Parasite“ vier Oscars abgeräumt, für den besten Film, die beste Regie, den besten internationalen Film und das beste Originaldrehbuch. „Danke – ich werde jetzt bis zum nächsten Morgen trinken“, sagte Joon Ho bei der Preisübergabe. Es war das erste Mal überhaupt, dass ein fremdsprachiger Film in der Kategorie „Bester Film“ gewann, eine Zäsur. Und ein Meilenstein der südkoreanischen Populärkultur. Aber „Parasite“ ist bei weitem nicht der einzige filmische Exportschlager des Landes.
Aktuell sorgt die Netflix-Serie „Squid Game“ international für Furore. Mit rund 111 Millionen Fans ist es die bisher erfolgreichste Produktion des Streaminganbieters. „Unser größter Serienstart aller Zeiten“, schrieb das Unternehmen unlängst auf Twitter. Der Regisseur? Ein Südkoreaner. Eine zweite Staffel? Beschlossene Sache.
Auch in der Modewelt ist Südkorea auf dem Vormarsch
Und dann gibt es in Südkorea die Musik. Die ist eine regelrechte Industrie in dem Land. Eine, die auch im Ausland zunehmend Gehör findet. Dem Zufall wird dabei kaum etwas überlassen. Bis eine Band des K-Pop – das K steht für Korea – zum ersten Mal ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit tritt, vergehen nicht selten zehn Jahre staatlich geförderter Castings, Imagesuche und Strategieberatung. Im Ausland werden mit koreanischer Popmusik vor allem Bands wie BTS und Blackpink verbunden. Sie touren über den gesamten Globus, ihre Songs tragen englische Namen, auch standen sie schon an der Spitze der US-Charts. Das kommt nicht von ungefähr. Die Song-Kompositionen ähneln westlichen Radio-Erfolgen zum Teil stark.
Auch in der Modewelt ist Südkorea auf dem Vormarsch. In Mailand, Paris oder Berlin hält man sich leicht für Avantgarde, für das Nonplusultra der Fashion-Industrie. Karl Lagerfeld aber erkannte früh das Potenzial südkoreanischer Megastädte. Im Jahr 2014 kam er für seine Chanel-Cruise-Show nach Seoul. Das stärkte das Selbstvertrauen, längst werden koreanische Modeschöpfer in Europa und den USA interessiert empfangen. Koreanische Labels wie Lie by Chung Chung Lee und Greedilous by Younhee Park gastieren auf den Fashionweeks dieser Welt.
Für den Westen ist die koreanische Kultur fremd, aber greifbar
Wie kommt es, dass Koreas Kulturgüter zunehmend beliebter werden in der westlichen Welt? Ein Anruf bei You Jae Lee, Professor für Koreanistik und Geschäftsführer der Koreanistik-Abteilung der Universität Tübingen. So richtig erklären, sagt er, könne er sich das Phänomen der vergangenen zehn Jahre nicht. Aber er hat verschiedene Vermutungen. „Serien wie Squid Game oder Filme wie Parasite treffen einen Nerv im Ausland“, sagt Lee. In Korea selbst hingegen seien sie gar nicht so beliebt. Ähnlich verhalte es sich wohl bei der Mode oder der Musik: „Es muss einen Code geben, der die Menschen im Ausland anspricht.“
Für den Westen ist die koreanische Kultur fremd, ihre Betrachtung ein „Konsumieren des Fremden“, erklärt Lee. Als kapitalistisches und industrialisiertes Land sei Korea jedoch nicht derart fremd, dass es abschreckend wirke. Zudem sei der koreanische Kulturmarkt sehr kompetitiv und kapitalistisch organisiert. Unternehmen investieren viel Geld in die Kulturbranche. Die koreanische Populärkultur sei nicht nur ein staatlich gefördertes Produkt, sagt der Professor. Sicher gebe es hier und da Förderungen für Musik und Film. „Aber nur begrenzt, und das gibt es in Deutschland ja auch.“
Koreanisch-Sprachkurse sind beliebt wie nie
In einem repräsentativen Ranking der kulturell einflussreichsten Länder der Welt belegt Südkorea in diesem Jahr Platz Sieben. Tendenz: steigend. Das Land ist sich seines aktuellen Hypes durchaus bewusst. „Das wird sehr stark wahrgenommen“, sagt Lee, „es ist eine sehr gute Werbung für die Kultur.“
Das unterstreichen Zahlen wie diese: Das Unternehmen „Duolingo“, das online Sprachkurse anbietet, gab Anfang Oktober bekannt, dass man in den Vereinigten Staaten etwa seit Start der Serie „Squid Game“ im September 40 Prozent mehr Nutzer für Koreanisch-Kurse registriert habe als noch im Vorjahreszeitraum. Auch in Deutschland, sagt Lee, sei das Interesse an Koreanisch unheimlich gestiegen – unabhängig von der Netflix-Produktion.
Und auch der Professor selbst bemerkt hierzulande „Hallyu“, die koreanische Welle. Etwa daran, dass an seiner Universität in Tübingen immer mehr Menschen Koreanistik studieren wollen. Lee sagt: „Wir können mittlerweile nur noch ein Viertel der Bewerber aufnehmen.“ Das sei zu Beginn des Studiengangs vor zehn Jahren noch ganz anders gewesen.