Endlich räumt einer der ranghöchsten katholischen Bischöfe in Deutschland das volle Ausmaß der Krise ein, in die aufgrund des Missbrauchsskandals die Kirche geraten ist. Es ist nicht allein persönliche Schuld, die Kardinal Reinhard Marx dazu antreibt, Papst Franziskus um seinen Rücktritt zu bitten. Die mag er in seinen beiden Bistümern Trier und München in Einzelfällen auf sich geladen haben. Vielmehr setzt Marx ein starkes Zeichen, auch das systemische Versagen der strikt hierarchisch organisierten Kirche wahrzunehmen. Die Sakralisierung des Weiheamtes musste geradezu zu systematischer Vertuschung und Leugnung der Verbrechen von sexualisierter Gewalt führen.
Kardinal Marx klagt keinen anderen Amtskollegen an. Ganz persönlich stellt er sich seiner Verantwortung „nicht nur für die eigenen möglichen Fehler, sondern für die Institution Kirche, die ich seit Jahrzehnten mitgestalte und mitpräge“. Er kann sich selbst dem System nicht entziehen. Aber er kann wenigstens selbst den Weg für einen Neuanfang freimachen. Jetzt braucht die katholische Kirche eine echte Umkehr – und diese schneidet ihr tief ins Fleisch. Sie benötigt Führungskräfte, die sich nicht mehr für unantastbar halten und einen völlig neuen Stil pflegen: den synodalen Weg.
Marx bietet Rücktritt an: Ein Gärungsprozess kommt in Gang und sein Ergebnis ist nicht absehbar
Auch wenn Marx seinen Rücktritt als persönliche Konsequenz ausgibt, wird sie auch andere Bischöfe in Zugzwang bringen. Kann der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki sich noch darauf hinausreden, ihm sei kein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten vorzuwerfen? Das wäre nur die halbe Wahrheit. Aus der Verantwortung für die Kirchenleitung kann er sich nicht herausstehlen. Woelki macht genau das, was Marx nicht weiter mittragen will: Er reduziert die Aufarbeitung des Missbrauchs auf eine verbesserte Verwaltung und klammert die tieferen theologischen Fragen aus, die sich aufdrängen.
Marx hat die ausdrückliche Einwilligung des Papstes, sein Gesuch zu veröffentlichen. Der Kardinal gehört seit Jahren zum engsten Beraterkreis des Pontifex. Offensichtlich liegt auch Franziskus daran, über die Erschütterungen in der deutschen Kirche in einer breiten Öffentlichkeit zu diskutieren. Ein Gärungsprozess kommt in Gang, dessen Ergebnis nicht absehbar ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es in Deutschland reihenweise Bischofsrücktritte geben wird – wie es etwa in Irland, Chile und den USA schon der Fall war.
Jede Sitzung der Bischofskonferenz gleicht einem Gerangel um die Macht
Aber wie soll es dann weitergehen? Die vakanten Bischofsstühle einfach rasch nachzubesetzen, wirft die Frage auf, wo denn die neuen Köpfe herkommen sollen – und was sie von den alten unterscheidet. Die deutsche katholische Kirche steht vor einer Zerreißprobe. Reformerische und beharrende Kräfte stehen sich hart gegenüber. Jede Sitzung der Deutschen Bischofskonferenz gleicht einem Gerangel um die Macht – und sei es in so nebensächlichen Fragen wie der nächsten Trägerin des katholischen Buchpreises. Die Angst, dass alles den Bach hinabgeht, ist groß in der Kirche. Einige Bischöfe lehnen jeden Reformdialog rundheraus ab und hintertreiben den Synodalen Weg nach Kräften, weil sie ihn als illegitimen Aufstand gegen eine unveränderliche Ordnung betrachten.
Kardinal Marx vertrat anfangs als Trierer Bischof auch eher konservative Positionen. Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz musste er wahrnehmen, wie dramatisch das Ansehen und die Bedeutung der katholischen Kirche hierzulande verfallen. Vielleicht ist es naiv, dass er ihr künftig als einfacher Seelsorger besser zu dienen glaubt. Eine demütige Besinnung auf die christliche Erlösungsbotschaft kann allemal mehr bewegen als Trotz vom hohen Ross herab.
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