Denken die Politiker eigentlich auch an die seelische Inzidenz, wenn sie jetzt unbekümmert den Lockdown erneut um Wochen verlängern und seine Regeln sogar verschärfen? Wahrscheinlich nicht, denn sonst würde ihnen das hohe Risiko nachhaltiger sozialer Schäden durch die erzwungene Vereinzelung der Menschen bewusst werden. Dabei ist sie mindestens so gravierend wie die Sorge um den Infektionsschutz. Nur umgekehrt. Allein gelassen sein macht auch ernsthaft krank.
Die fehlende Nähe macht uns dünnhäutig, nervös und aggressiv
Wir spüren das allenthalben: Bei vielen von uns liegen die Nerven blank. Wir sind oft allein mit uns selbst und mit unseren Ängsten. Wir fühlen uns verletzlich. Verletzlichkeit aber macht dünnhäutig, nervös, gereizt und aggressiv. Zumal keinerlei Erlösung aus dieser unguten Situation absehbar ist. Im Gegenteil: Die amtlichen Zumutungen werden eher größer.
Schulen zu, Läden zu, Kinos und Theater zu, Distanzgebote: Es gibt nahezu keinerlei Begegnungsmöglichkeiten mehr. In allen Umfragen unter denen, die jetzt von zu Hause arbeiten, wird der fehlende Austausch mit Kollegen am meisten vermisst. Dazu tritt immer öfter die Angst, vom Arbeitgeber bald ganz ausgesondert zu werden.
Viele Studenten schmeißen das Studium, Selbstständige stehen vor dem Abgrund
Härter noch bedrängen Existenzängste die selbstständigen Unternehmer, die seit Monaten von ihrer Erwerbsquelle abgeschnitten sind. Werden sie ihren Laden, ihr Büro, ihr Restaurant, ihr Kino oder ihre Unterhaltungsstätte jemals wieder aufmachen können? Ihnen gähnt der Abgrund entgegen, den kein Hilfsprogramm überbrückt. Entmutigung und Verzweiflung breiten sich aus: War alles umsonst, was sie sich mühe- und entsagungsvoll aufgebaut haben?
Überdurchschnittlich viele Studenten schmeißen hin, weil ihnen das Campusleben fehlt. Aus virtuellen Vorlesungen ergeben sich eben keine neuen Freundschaften, an denen wir als Persönlichkeit reifen und erwachsen werden. Oft halten sie ein ganzes Leben lang.
Der erzwungene Verzicht muss Kinder und Jugendliche traurig stimmen
Am meisten trifft der Lockdown die Kinder und Jugendlichen. Für sie ist ein Jahr nicht einfach ein Zeitraum, der sich später nachholen lässt. Unwiederbringlich verloren geht ihnen die Lebenszeit, die normalerweise die intensivste überhaupt ist, weil vieles zum ersten Mal geschieht: der erste Schultag, die Erstkommunion, der erste Kuss, die erste Nacht ohne Eltern.
Der erzwungene Verzicht muss sie traurig stimmen. Sogar das tägliche Zusammensein mit Freunden, das gemeinsame Spielen mit Gleichaltrigen, das absichtslose Blödeln, das Kräfte messen in der Gruppe, der bewegungsintensive Spaß auf einer Party, das Knistern des ersten Verknalltseins fällt dem Abstandsgebot zum Opfer.
Durch die Vereinzelung fehlt es an zwischenmenschlicher Solidarität
Ebenso entfallen die Orte des gemeinsamen Handelns. Schulunterricht mag recht und schlecht virtuell zu vermitteln sein, der sportliche Wettkampf, das Fußballspiel, das Chor- oder Orchesterkonzert benötigen körperliche Präsenz. Monatelang sind wir abgeschnitten davon, uns gemeinsam für ein Projekt anzustrengen, um dann möglichst Erfolge zu genießen. Von solcher Einbindung fühlen wir uns getragen, aus ihr beziehen wir unsere Stärke. So gesehen, dient jeder Verein der seelischen Erhebung.
Distanz halten sei eine Weise des Füreinander-Daseins, hieß es am Beginn der Pandemie. Längst erfahren wir die verheerende Kehrseite. Die Vereinzelung führt zur Entsolidarisierung. Jeder versucht auf seine Art, die Krise irgendwie zu überstehen. Und sei es mit Resignation und Rückzug. Wie viele verkriechen sich in ihrer Wohnung, weil sie ängstlich ihren Mitmenschen als Infektionsträger misstrauen? Mancher spült seine Isolation mit Alkohol hinunter. Es wird einige Zeit dauern, bis unter uns wieder Vertrauen ins Miteinander wächst.
Um Hoffnung und Hoffnungslosigkeit in der Corona-Krise geht es auch in der ersten Folge unseres Glaubenspodcasts "Über Gott und die Welt" mit dem katholischen Bischof Bertram Meier und dem evangelischen Regionalbischof Axel Piper. Hier können Sie das Gespräch anhören.
Lesen Sie dazu auch:
- Die Psyche leidet im zweiten Lockdown mehr
- Wir haben in der Krise die seelische Inzidenz übersehen
- Corona: Positive Einstellung und Tagebuch helfen Psyche