Die einfachsten und schönsten Geschichten sind es mitunter, die, welche die Millionen erheitern und deren Leben bereichern, hinter denen sich die dunkelsten Erfahrungen eines einzelnen Lebens verbergen. Man mag an Janosch denken oder Astrid Lindgren, von denen das alles ja längst bekannt ist – aber während sein Buch, das weltweit über 50 Millionen mal verkaufte „Die kleine Raupe Nimmersatt“ praktisch jeder kennt, wer hätte es von dessen Schöpfer Eric Carle gewusst?
Jetzt, da der Autor im Alter von 91 Jahren an Nierenversagen in New York gestorben ist, gilt es also, sich noch einmal zu erfreuen an: einem Apfel und zwei Birnen, drei Pflaumen und vier Erdbeeren, fünf Orangen und einem Stück Schokoladenkuchen, einer Eiswaffel und einer sauren Gurke, einer Scheibe Käse und einem Stück Wurst, einem Lolli und einem Stück Früchtebrot, einem Würstchen und einem Törtchen – und schließlich einem Stück Melone. Durch das alles hat sich jene kleine Raupe von Loch in der Seite zu Loch in der Seite gefressen, bis sie am Schluss, nach Bauschmerzen und Verpuppung, zum Schmetterling wird. Oh, Wunder: Natur! Immer wieder blättern, Finger durchstecken, vorlesen, staunen.
Die Raupe Nimmersatt: 1969 erschienen, über 50 Millionen mal verkauft
1969 ist das Buch erschienen, in den USA, 17 Jahre nachdem sich Eric Carle nach Abschluss der Kunsthochschule in Stuttgart ein zweites Mal auf den Weg dorthin gemacht hatte. Diesmal aus freiem Entschluss, mit kaum Geld in der Tasche, aber Hoffnung auf eine erfolgreiche Zukunft als Grafikdesigner. Beim ersten Mal – und daran gilt es nun erst recht zu erinnern – war es noch ganz anders gewesen.
„Die farbenfrohen Illustrationen sind eine Art Gegenmittel zu den Graus und Brauns meiner Kindheit in Deutschland“, sagte Carle kurz vor seinem 90. Geburtstag. Geboren in Syracuse im US-Bundesstaat New York, war er 1935 als Sechsjähriger mit seinen Eltern hierher gekommen, weil diese als deutschen Auswanderer heimkehren wollten. So landete Eric als Kind in der Nazi-Zeit, in Stuttgart. „Dieser Schulbeginn ist mir unvergesslich – ein kleines Klassenzimmer mit schmalen Fenstern, ein harter Bleistift, ein kleines Blatt Papier und die strenge Ermahnung, keine Fehler zu machen … Es war so ein Kontrast zu Miss Frickey“, seiner Grundschullehrerin in den USA, „die ich liebte und in deren lichtdurchflutetem Klassenzimmer ich mit leuchtenden Farben malte“. Die Schläge dieses Lehrers mit dünnem, hartem Bambusstock vergaß er nie. „Ich habe schmerzhafte Erinnerungen daran, in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges aufzuwachsen.“
Wie John Carle sein inneres Kind wiederfand - und zur Natur
Die schmerzhaften Kindheitserfahrungen wurden zum Antrieb für sein späteres Schaffen als Kinderbuchautor. Mehr als 100 Werke veröffentlichte er, in rund 70 Sprachen übersetzt. Dabei war er beim zweiten Aufbruch aus Deutschland zu ganz anderem in die USA zurückgekehrt, war Grafikdesigner bei der New York Times, künstlerischer Leiter bei einer Werbeagentur. Bis eines Tages der Schriftsteller Bill Martin ihn, als der eine seiner Grafiken sah, fragt, ob er etwas zu einer Geschichte über einen Braunbären beisteuern wolle. „Mein inneres Kind – das so plötzlich und einschneidend entwurzelt und unterdrückt worden war – wurde langsam wieder lebendig“, erzählte Carle.
Warum durch Natur? Geprägt von Spaziergängen mit dem Vater: „Er hob einen Stein hoch und zeigte mir die kleinen Kreaturen, die darunter lebten. Ich denke, indem ich in meinen Büchern über kleine Geschöpfe schreibe, ehre ich auch ihn.“ Sein Ziel? „Ich versuche zu unterhalten mit meinen Bildern und meinen Geschichten“, sagte Carle. Aber er lasse auch ein bisschen etwas zum Lernen einfließen, „auf eine verdeckte Art“. Die Geschichten von Spinnen, Käfern und Chamäleons erzählt Carle anhand von Collagen aus selbstbemaltem Seidenpapier. Bevor der Autor auf die legendäre Idee mit der Raupe und den Löchern in den Seiten kam …
Den außergewöhnlichen Erfolg der Raupe konnte er sich selbst übrigens nie ganz erklären: „Mittlerweile glaube ich, zum Teil liegt es daran, dass sich die meisten Kinder identifizieren können mit der hilflosen, kleinen, unbedeutenden Raupe und sie sich mitfreuen, wenn die sich in einen schönen Schmetterling verwandelt.“ (mit dpa)
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