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Kino: Filmfestspiele: In Venedig lebt das Kino wieder

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Filmfestspiele: In Venedig lebt das Kino wieder

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    Zurück in die 1980er Jahre und zu seiner Geschichte für Paolo Sorrentino in der Netflix-Produktion „É stata la mano di dio“, die bei den Filmfestspielen in Venedig ihre Weltpremiere hatte.
    Zurück in die 1980er Jahre und zu seiner Geschichte für Paolo Sorrentino in der Netflix-Produktion „É stata la mano di dio“, die bei den Filmfestspielen in Venedig ihre Weltpremiere hatte. Foto: Netflix

    Der Vorfilm beginnt bereits mit der 40-minütigen Schifffahrt am Mittwochmorgen aus der Stadt auf den Lido, den Schauplatz der 78. Internationalen Filmfestspiele. Zunächst tuckert der Wasserbus gemächlich den Canal Grande entlang. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Die abgeblätterten Fassaden der Palazzi leuchten in allen Farben, das Licht fluoresziert im Wasser. Auf einem DHL-Boot stapeln sich Pakete, auf den Hotelterrassen wird gefrühstückt, die Möwen streiten sich um die Reste.

    Dieser fantastischen Kulisse etwas entgegenzusetzen, ist eine cineastische Herausforderung, denn der eigentliche Star der Filmfestspiele Venedig ist und bleibt die Lagunenstadt selbst, auch wenn es sich bei dieser Ausgabe, wie der Festivalleiter Alberto Barbera betont, um den besten Jahrgang seit zehn Jahren handele.

    Das Boot nimmt Fahrt auf. Über dem Lido kreisen Hubschrauber, erwartet werden neben nationalen und internationalen Stars auch der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella. Deshalb gilt die höchste Sicherheitsstufe zu Land und zu Wasser. Polizeiboote patrouillieren, Carabinieri sichern die Zugänge zum Festivalgelände. Die Körpertemperatur wird gemessen und Taschen kontrolliert, es gelten Maskenpflicht und die 3G-Regel. Die Journalistinnen und Journalisten, die Besucherinnen und Besucher nehmen es gelassen. Trotz Pandemie fühlt sich hier alles an wie Urlaub.

    Die Karten bei den Filmfestspielen von Venedig sind bereits nach wenigen Minuten ausverkauft

    Weitaus weniger entspannt gestaltet sich der Kampf um die Tickets. Wegen der Pandemie müssen sich alle Akkreditierten vorab online personalisierte Karten für die Vorstellungen reservieren. Diese werden jeweils 72 Stunden vor Beginn freigeschaltet und sind in der Regel bereits nach wenigen Minuten ausverkauft. Im Presse-Büro des Palazzo del Casinò häufen sich die Beschwerden. Zwei russische Journalisten, die mit dem kanadischen Regisseur Denis Villeneuve zum Interview verabredet sind, haben keine Karten für seinen Film „Dune“ bekommen. Da Denis Villeneuve nicht irgendwer ist, sei in diesem Fall vielleicht etwas zu machen, verspricht ihnen die entnervte Mitarbeiterin. Dieses Jahr ist „totally crazy“, sagt sie, Corona hat alles verkompliziert.

    Als Erstes steht der Eröffnungsfilm „Madres paralelas“ des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar auf dem Programm. Die beiden Frauen Janis (Penélope Cruz) und Ana (Milena Smit) lernen sich im Krankenhaus in Madrid kurz vor der Entbindung kennen. Beide Schwangerschaften sind ungeplant. Janis freut sich, während Ana der Geburt mit gemischten Gefühlen entgegensieht. Ein starker Stoff, doch so richtig mitleiden will frau nicht mit diesen beiden Alleinerziehenden, die in gewohnt stylishen Almodóvar-Settings darüber klagen, dass sie nur eine Au-pair plus Zugehfrau und eine Nanny als Hilfe haben. Auch der sich anbahnende, tiefer gehende Konflikt des Films, der weit in die Vergangenheit zurückreicht, wirkt künstlich und konstruiert und lässt die Zuschauer etwas unterkühlt zurück, was allerdings auch am extrem klimatisierten Kinosaal liegen könnte.

    Außer Konkurrenz werden für die Presse die Serie "Szenen einer Ehe" gezeigt

    Nachmittags werden außer Konkurrenz für die Presse die ersten beiden Folgen der HBO-Serie „Szenen einer Ehe“, eine zeitgenössische Adaption des Ingmar-Bergman-Klassikers von 1973 des israelischen Regisseurs Hagai Levi, gezeigt, die am Samstagabend ihre Weltpremiere feiert. Kritiken sind erst ab der ersten offiziellen Vorführung vor Publikum erlaubt.

    Die Zikaden zirpen, die Wirklichkeit des milden Spätsommerabends und der Blick aufs Meer lassen sich mit einem Glas Prosecco auskosten, bevor es Zeit ist, in den Kinosaal zurückzukehren. Zum Abschluss des ersten Tages läuft der Dokumentarfilm „Hallelujah: Leonard Cohen, a Journey, a Song“, der die erstaunliche Entstehungsgeschichte des gleichnamigen Liedes aufrollt und den Ohrwurm für die Rückfahrt über das schwarze Wasser in die erleuchtete Stadt liefert.

    Am nächsten Tag feiert der erste der fünf italienischen Wettbewerbsfilme, Paolo Sorrentinos Netflix-Produktion „É stata la mano di Dio“, zu Deutsch: „Es war die Hand Gottes“, Weltpremiere. Der Film nimmt den Zuschauer mit ins Neapel der 80er Jahre, zu Fabietto Schisa und seiner verrückten, liebenswerten Großfamilie. Der 17-Jährige verliebt sich in seine Tante Patrizia, während der argentinische Fußballspieler Diego Maradona beim SSC Neapel unterschreibt und die ganze Stadt in Fußballfieber versetzt, bis der tragische Unfalltod der Eltern Fabietto und seine Geschwister zu Vollwaisen macht.

    Bei Sorrentinos neuem Film wird gelacht, geweint, gefühlt

    Die Geschichte dieses Films ist eine wahre Geschichte, es ist die Geschichte des neapolitanischen Oscar-Preisträgers Regisseurs Paolo Sorrentino. Natürlich wiegt diese Wahrheit schwer, weil alle im Saal sie kennen und mitleiden. Es wird gelacht, geweint, gefühlt. Endlich! Die Intensität dieser tragischen Coming-of-Age-Geschichte entwickelt eine ungeheure cineastische Wucht, indem sie zur Geschichte aller wird, die nichts ahnend aus heiterem Himmel von einer Wagenladung Schmerz überrollt werden; ein Zustand, den der Regisseur bei der anschließenden Pressekonferenz mit einem Zitat von Charles Bukowski so beschreibt: „Die Götter waren gut, die Liebe war schön und der Schmerz kam in Massen.“

    Zu behaupten, es ginge in „É stata la mano di dio“ nur um den Schmerz, wäre allerdings falsch, denn es geht um viel mehr. Um das gute Leben, die Liebe, den Fußball, um la famiglia, das Filmemachen und die Kraft der Fantasie. Ganz großes Kino eben, herausragend besetzt. Traurig und glücklich zugleich verlassen die Journalisten den Kinosaal, blinzeln in die Sonne, während sie Superlative in ihre telefonini diktieren. Der Film wirkt wie eine antike Tragödie, die auch eine reinigende Wirkung auf die Seelen hat.

    Aus den Lautsprecherboxen vor dem Palazzo del Cinema dröhnt Leonard Cohens „Hallelujah“, und dann biegt plötzlich Paolo Sorrentino höchst persönlich mit seiner gesamten Entourage um die Ecke. „Grazie mille, Paolo!“, ruft ihm ein italienischer Kollege hinterher: „Hallelujah! Viva il Cinema!“

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