Wenn ich mich erinnere, dann entstehen Geschichten, Filme – und das nicht nur im Kopf. Als Fellini das 1973 mit seinem Film „Amarcord“ tat, so heißt „Ich erinnere mich“ im Dialekt um Rimini, war er schon 34 Jahre lang Römer und seitdem als Zeichner, Drehbuchautor und Regisseur tätig. Er arbeitete mit Roberto Rosselini. Als 1946 mit ihm der Episodenfilm „Paisà“ gedreht wurde, war er schon mit der unvergessenen Bühnen- und Filmschauspielerin Giulietta Masina verheiratet. Ihre weichen und doch stets an einen Clown erinnernden Gesichtszüge machten das dargestellte, meist von Bitternis gezeichnete Leben in fast jedem ihrer Filme zu einem Vergnügen. Kinder hatten die Fellinis nicht (mehr), nachdem ihnen das einzige, Pier Federico, nach nur wenigen Tagen auf dieser Welt starb (1945). Ein Leid, an das man das Ehepaar nie erinnern sollte.
„Amarcord“ gehört neben „La Strada“ (1954) und „La Dolce Vita“ (1960) zu Fellinis markantesten Filmen. Wohl auch, weil Fellinis Fabulierlust durch seine darin so herzlich vor Augen geführten Kindheitserinnerungen das erste Zeugnis eines Alterswerkes geben. Sein Geburtstag jährt sich am 20. Januar 2020 zum 100. Mal.
Fellini erhielt seinen fünften Oscar für sein Lebenswerk
Weise und unvergleichlich berührend verkörperte La Masina, wie sie die Italiener respektvoll nannten, in „La Strada“ an der Seite von Anthony Quinn die Rolle der naiven Gelsomina. Der Film bescherte Fellini den ersten Oscar. Den zweiten erhielt er vier Jahre später für „Die Nächte der Cabiria“. Auch hier in der Hauptrolle die Masina, die auch den Oscar entgegennahm. Fellini liebte weder Wirbel noch langes Reisen. Mit dem Film „8 ½“ (1963) gab’s den dritten, mit „Amarcord“ den vierten Oscar. Den fünften und letzten für sein filmisches Gesamtwerk überreichte ihm die Academy in seinem Todesjahr 1993. Da fuhren beide hin.
Sein Gesamtwerk war international dem Genre „Drama & Fantasy“ zugeordnet worden. Es umfasste 24 unvergleichliche Filme. Die zahlreichen Drehbücher in der Schaffensphase des italienischen Neorealismus, insbesondere für Roberto Rossellini sind nicht zu vergessen. Allein hierfür erhielt er in den 1940er Jahren zwei Oscar-Nominierungen, weitere sechs für seine eigenen Filme. Wiederholte Angebote, nach Hollywood zu kommen, schlug er rigoros aus. Sein geliebtes Rom, und damit meinte er in erster Linie seinen großen Freundeskreis, wollte er um nichts auf der Welt verlassen.
Federico durften ihn nur Vertraute und alle namenlos Gebliebenen von der Straße nennen, wenn sie aus Begeisterung oder bloßer Ehrerbietung nach ihm riefen. Angesprochen wurde er mit Maestro. Damit war er in der Rangordnung aller nicht Seliggesprochenen noch vor die Heiligen und gleich hinter Gott gestellt worden. Federico, der Maestro, galt mindestens eine Generation lang, allen Kunstschaffenden dieser Welt als ein Gott. Fellini zauberte Geschichten ans Licht und stellte die Lust am prallen Leben nicht nur als Kinoillusion zur Schau, sondern bestückte gleichzeitig das bürgerliche Empfinden mit moralischen Fallgruben. Er provozierte.
In seinem Büro war Fellini von hunderten von Konterfeis umgeben
Fellinis Himmel war oben. Sein Büro hing – ein circa 20 Quadratmeter großer Raum am Ende eines langen Ganges unmittelbar neben Hunderten von Filmscheinwerfern, Leitern und Brücken – unter dem wie heilig erscheinenden Filmdach von Studio V in Cinecittà. In diesem über Jahrzehnte größten aller europäischen Filmstudios thronte der Maestro, umgeben von hunderten von Konterfeis, von zahllosen Charakteren mit manchmal arg schrägen, immer aber markanten Gesichtszügen.
Der Maestro sammelte Träume und Gesichter. Die Träume saugte er auf, die Gesichter ließ er auf sich wirken. Im Laufe der Monate sonderte er aus und fand die Figuren für seinen jeweils in der Entstehung begriffenen nächsten Film. Das gültige Drehbuch entstand ihm erst, nachdem er seine auch erträumten Figuren vorgefunden und auch tatsächlich vor Augen hatte.
1980, ich lebte bereits in Italien, hatte ich Fellini eine Art Traum-Brief geschrieben, einen schönen, will ich meinen. Ich hatte diesen persönlich beim Pförtner seiner römischen Wohnung in der Via Margutta 110 abgegeben und hoffte auf ein Wunder. Es kam wenige Tage später, Fellini antwortete, lud mich zu einem Treffen ein. Ich wollte ihm nur die Hand schütteln und mich traumwandlerisch und naiv für die Sichtbarmachung zügelloser Fantasie bei ihm bedanken, mehr nicht. So erschien ich ohne Bewerbungsfotos oben in seinem Büro. Er, der Gott, ging um mich herum, beäugte mich prüfend und fragte sogleich nach den Fotos. Aber ich hatte ja keine.
Fellini spielte gerne Operette
„Was? Er hat keine Fotos?“ Allein dies war eine Ungeheuerlichkeit. Denn sofort riss er die Tür zum Gang auf und rief erschreckend laut nach seiner getreuen Referentin Filomena. Als sie den Kopf aus ihrem Büro steckte, drohte er ihr in einen durchaus ironischen Wortschwall verpackt mit Entlassung, weil sie mich zu ihm vorgelassen hat: „Weiß er denn nicht, dass bei mir kein Mensch ohne Visitenkarte vorsprechen darf? Die Visitenkarte ist das Foto!“ Fellini spielte gerne Operette und war sichtlich beglückt, wenn hierfür der gesamte Stab zusammenlief. Da oben in seinem Himmel geschah das ohne Megafon.
Anderntags brachte ich ihm die Fotos. Er schmunzelte und sagte mit seiner hohen und sehr spitzen Stimme, die seinem Körperbau nur bedingt entsprach: „Na also! Ein Filmgesicht! Und elegant ist er auch. Ich schreibe eine Rolle für dich!“ Das war für den Film „E La Nave Va“ (Schiff der Träume, 1981). Er nannte mich, wenn er während der vier Monate andauernden Dreharbeiten nach mir rief, gerne den Pazzo, den Verrückten, weil ich es tatsächlich als einziger gewagt hatte, bei ihm ohne Foto vorzusprechen. Dafür aber steckte er mir eine Zigarre in den Mund, ließ sie anzünden und sagte: „Das gehört zu deiner Rolle!“ Protest, dass ich eingefleischter Nichtraucher war, half nicht. Es amüsierte ihn. Die Unterwerfung ließ uns zu Freunden werden.
Der Maestro mochte die Deutschen nicht sonderlich gern. Aber Raucher mochte er auch nicht, egal welcher Herkunft. Im Studio V herrschte striktes Rauchverbot, aber nicht etwa aus Sicherheitsgründen. Bei mir war die Widersetzung eines Verbotes zwingend, denn die Zigarre gehörte fortan zu meiner Rolle und wurde Requisite.
Federico war eitel und scheu ... und ein Genie
Männer mit Hüten waren ihm suspekt. Vielleicht, weil sie, wie er meinte, sich ihrer selbst nicht sicher, nur ein dominantes Objekt aufsetzten, um vor anderen zu bestehen. Unter seinem typischen Fellini-Hut – das wussten all diejenigen, die ihn Federico nannten – versteckte er nicht etwa sich, sondern den Umstand, dass ihm die Haare früh ausgegangen waren. Federico war eitel und scheu und … er war, was alles entschuldigte, ein Genie. Genies dürfen machen, was sie wollen. Sie sind wie Gott. Vor Gott hat man Ehrfurcht, vor Federico konnte man lustvoll zittern. Gott hatte die Welt schon erschaffen, Fellini schuf sie mit jedem Drehtag neu.
Giulietta, fast gleichalt wie ihr Mann, starb nur wenige Monate nach ihm, im März 1994. Die letzte Reise ging zurück nach Rimini. Ihr letzter Wunsch war es, am dann gemeinsamen Grab „Das Lied der Straße“, das bis in jede empfindsame Seele kriechende Trompetensolo aus „La Strada“, noch einmal erklingen zu lassen. Live und vom selben Trompeter, der es 1954 für den Film eingespielt hatte.
Als der Komponist und zugleich Fellinis kongenialster Filmpartner Nino Rota 1979 starb, stellte das für Fellini einen herben Verlust dar. Seine Seele blutete. Nach ihrer letzten gemeinsamen Arbeit „Casanova“ (1976) konnte man es allen weiteren Filmen Fellinis anmerken, dass die skurrilen und fantasiebeladenen Bilder ihren deutlichen Ausdruck erst durch Rotas Musik gefunden hatten. Als diese Musik verstummt war, entsprach das ursprünglich fellineske Gesamtkunstwerk nur noch bedingt den bewährten Erwartungen zwischen Trauer und Lächeln, Drama und Fantasie.
Nach Ende der Dreharbeiten zu „La Nave va“ kaufte ich mir ein Megafon und wagte als Filmregisseur meinen ersten Film. Das hatte ich von Federico gelernt: keine Grenzen, keine unumstößlichen Regeln, keine (bürgerlichen) Zwänge im Kopf. Grazie Maestro!
Zum Autor
Der Schauspieler und Filmemacher Wolf Gaudlitz, 65, lernte Fellini 1980 kennen. Danach spielte er eine Rolle in Fellinis „E La Nave Va“ (Schiff der Träume, 1981). Daraufhin fing Gaudlitz selbst an, Filme zu drehen. Sein erster Kinofilm war Ballata Ballarò (1982), darauf folgten unter anderem L’Opera (1986), Nardino (1988), Blaue Wüste (1992) Taxi Lisboa (1996) sowie Palermo flüstert (2001) und Sahara Salaam (2014). In seinen Filmen verwischt Gaudlitz die Grenzen von Traum und Wirklichkeit.