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Jubiläum: Joseph Beuys und die Kunst, 7000 Eichen zu pflanzen

Jubiläum

Joseph Beuys und die Kunst, 7000 Eichen zu pflanzen

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    Unverkennbar mit Hut: Der Künstler Joseph Beuys, dessen Geburtstag sich am 12. Mai 2021 zum 100. Mal jährt.
    Unverkennbar mit Hut: Der Künstler Joseph Beuys, dessen Geburtstag sich am 12. Mai 2021 zum 100. Mal jährt. Foto: Hans Dürrwald, dpa

    So groß, so frei, so friedfertig wie der Friedrichsplatz im Herzen der Stadt Kassel daliegt, sieht keiner ihm an, welches Unverständnis, welche Empörung, welche Wut hier immer mal wieder herrschte. Unverständnis, Empörung, Wut über Skulpturen und künstlerische Aktionen, die als Grenzüberschreitungen, als Anti-Ästhetik, als Sinnlosigkeit empfunden wurden.

    Beispielsweise 1977, gleich zweifach zur Weltkunstausstellung documenta 6. Kopfschütteln und Protest erntete Walter De Maria, dieser US-Land-Art-Künstler, der ein 1000 Meter tiefes Loch in den Friedrichsplatz bohren ließ, in das er unter dem Namen „Vertikaler Erdkilometer“ 167 Messing-Rundstäbe von sechs Meter Länge und fünf Zentimeter Stärke senkte. Der Drang zu erkunden, warum De Maria dies tat, war in der Bevölkerung geringer ausgeprägt als die Kritik an Bauzaun und Bohrturm.

    Noch dazu sah der Sommer 1977 in Bochum Richard Serras zwölf Meter hohe Stahlplattenskulptur „Terminal“, die umgehend kommentiert wurde, indem Passanten sie zweckentfremdeten. Worauf sie „Kunstklo“ geheißen wurde. Mittlerweile spaltet sie die Bürgerschaft Bochums.

    Der Künstler Joseph Beuys betrat mit Hut und Schaufel den Friedrichsplatz

    1982 schlugen in Kassel die Wellen abermals hoch. Nun betrat mit Hut und Schaufel der Künstler Joseph Beuys den Friedrichsplatz. Was er hinterließ, war ein frisch gepflanztes Eichenbäumchen, dem eine Basaltstele zur Seite gegeben wurde. Einzeln betrachtet: wenig spektakulär als Kunstaktion – wenn da nicht die große und ganze Idee gewesen wäre, die auf erheblichen Unmut in der Bevölkerung Kassels stieß.

    Ein Bild von den Anfangstagen der Pflanzaktion in Kassel, die sich über mehrere Jahre hinzog.
    Ein Bild von den Anfangstagen der Pflanzaktion in Kassel, die sich über mehrere Jahre hinzog. Foto: Dieter Schwerdtle

    Zum Großen und Ganzen aber gehörte auf dem Friedrichsplatz auch jener keilförmige Haufen an 7000 Basaltstelen, dessen Spitze auf das einsam treibende Bäumchen wies. Denn Beuys wollte ja nicht nur ein Eichenbäumchen pflanzen; er wollte binnen fünf Jahren 7000 Jung-Eichen nebst 7000 Basaltstelen über das gesamte Stadtgebiet verteilen. Und das führte zu scharfem Einspruch und gewalttätigen Reaktionen auf Jahre hinaus – was fast 40 Jahre später nicht leicht nachzuvollziehen ist.

    Manches kam da explosiv zusammen: Ältere Bürger fühlten sich angesichts des Basaltsteinhaufens in der guten Stube der Stadt an das zerbombte Kassel nach dem Zweiten Weltkrieg und an gestapelte Leichen erinnert; die Stadtverwaltung sah große praktische Probleme, da es für sie schon in den Jahren zuvor schwierig genug war, tausende von Bäumen für die Bundesgartenschau 1981 einzusetzen – und unter solcher Vorgabe war das Aktions-Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ gewiss nicht geeignet zur Besänftigung –; hinzu kam die Angst des Einzelhandels und der Bürger vor tausendfachem Parkplatzverlust. Grauen ging um.

    Bürger liefen Sturm gegen die Beuys-Aktion

    Auch die Verkehrssicherheit spielte eine Rolle – erst recht, als 1984 ein Motorradfahrer in der Ludwig-Mond-Straße tödlich verunglückte. Nun wurde die Gleichung plakatiert: „Bäume = Mörder“. Andere liefen Sturm gegen die Aussicht auf herabfallendes Laub, herabfallenden Vogeldreck, tropfendes Harz. Selbst dort, wo tieferes Verständnis, höhere Toleranz erwartbar gewesen wäre, wurde gewettert: im Kunstverein Kassel.

    Das durch Beuys ergrünte Kassel heute.
    Das durch Beuys ergrünte Kassel heute. Foto: Anneli Lattrich

    Das waren der Aufruhr und die Ressentiments der ersten Pflanz-Jahre. Knapp 40 Jahre später, zu einem Zeitpunkt, da es geboten erscheint, weltweit Bäume, nichts als Bäume zu pflanzen, sieht die Sache anders aus, nämlich: grüner. Knapp 40 Jahre später ist die Beuys-Aktion „7000 Eichen“ längst als visionäre Handlung anerkannt, die soundsoviel gesellschaftspolitische Kunst nach sich zog – auch in floraler Form, auch in Kassel knapp 40 Jahre später existiert längst die praktisch hilfreiche Stiftung „7000 Eichen“ und steht das gesamte organisch-anorganische Kunstwerk – auch jene Baumgruppe mit Basaltstelen auf dem abgeschlossenen Gelände der Justizvollzugsanstalt – unter Denkmalschutz.

    Das Stadtbild hat sich enorm verwandelt, man konnte das Grün wachsen sehen – hin zu gesteigerter Lebens-, Luft- und Kleinklimaqualität. Auch wenn es hier und da immer noch Diskussionen darüber gibt, wer für die Baum-Bewässerung, speziell auf Privatgrund, zuständig sei. Gleichwohl: Kein anderes Kunstwerk von Joseph Beuys steht so unmittelbar einleuchtend da für das, was er eine „soziale Plastik“ nannte – heute an seinem 100. Geburtstag. Andere Städte – wie Chicago – haben sich von den „7000 Eichen“ zu vergleichbaren Pflanzaktionen inspirieren lassen.

    Die ganze Aktion war ausgelegt zum Wohl eines Naturraums in der Stadt

    Denn alles, was geschah, war ja ausgelegt zum Wohl eines Naturraums in der Stadt und damit – untrennbar verbunden – zum Wohl des Menschen. Beuys im April 1982, also kurz nach dem Pflanzen des ersten Bäumchens auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum, einem der ältesten Museen weltweit: „Es soll also auf die Umgestaltung des gesamten Lebens, der gesamten Gesellschaft, des gesamten ökologischen Raumes hingewiesen werden mit einer solchen Aktion.“ Letztlich suchte Beuys’ soziale Plastik für die Gesellschaft Verbesserungen zu erzielen – und ihre Wunden zu heilen. Das gehörte maßgeblich zu seinem erweiterten Begriff von Kunst.

    Joseph Beuys – Stationen eines Künstlerlebens 

    Joseph Beuys wird am 12. Mai in Krefeld geboren. Aufwachsend in Kleve, zeigt er bereits als Schüler künstlerische und naturwissenschaftliche Interessen. Er war Mitglied in der Hitler-Jugend.

    1941 Verpflichtung zur Luftwaffe für zwölf Jahre. Er wird von Heinz Sielmann, der ab Ende der 1940er Jahre als Tierfilmer bekannt wurde, zum Flugzeug-Bordfunker ausgebildet. Sielmann verstärkt das Interesse Beuys’ an den Naturwissenschaften.

    Militäreinsätze ab 1942 rund um die Insel Krim, später Böhmen und Mähren, schließlich an der Adria. 1944 im Kampf um die Krim Absturz mit schweren Verletzungen.

    Beuys wird von einer deutschen Suchtruppe in ein Militärlazarett eingeliefert, das er nach drei Wochen wieder verlassen kann. Den Absturz verbrämt Beuys später mit einer Legende, wonach er von Krim-Tataren mittels alter Volksheilmittel wie Tierfett und warmhaltendem Wollfilz gesund gepflegt wurde.

    1944 erneut Kampfeinsatz, nun an der Westfront. Britische Kriegsgefangenschaft. 1945 Rückkehr nach Kleve, Eintritt in eine lokale Künstlergruppe. 1946 Immatrikulation an der Düsseldorfer Kunstakademie. Vor allem bei Ewald Mataré studiert Beuys Bildhauerei, ab 1951 als Meisterschüler neben Erwin Heerich. An der Kunstakademie kommt er vertiefend mit den spirituellen Lehren des Anthroposophen Rudolf Steiner und dessen Arbeit „Kernpunkte der sozialen Frage“ in Kontakt.

    1953 Beendigung der Meisterklasse und erste Ausstellungen, darunter im Von-der-Heydt-Museum Wuppertal. 1957 Umzug zurück nach Kleve. In dieser Zeit: vor allem kunsthandwerkliche Aufträge (auch sakraler Ausrichtung) sowie ein „Mahnmal für die Toten der Weltkriege“ in Meerbusch-Büderich. In der Folge: Fett und Filz werden als künstlerisches Material eingesetzt; verstärkt Beschäftigung mit Zeichnung; weitere naturwissenschaftliche Studien.

    1961 Umzug nach Düsseldorf sowie Ruf an die dortige Kunstakademie auf den Lehrstuhl für monumentale Bildhauerei. Erste Aktionen im Bereich der Kunstbewegung Fluxus. Entwicklung von Gedanken zu einem sozialen und erweiterten Kunstbegriff.

    Als Lehrer mit hoch engagiertem Einsatz bringt Beuys einige Studenten zu erfolgreicher Künstlerschaft, darunter Katharina Sieverding, Blinky Palermo, Jörg Immendorff. 1971 nimmt er weit über hundert abgelehnte Studienbewerber in seine Klasse auf, was – nach weiteren Querelen mit dem Wissenschaftsministerium – zu seiner fristlosen Entlassung 1972 führt. Schriftsteller wie Heinrich Böll und Martin Walser, Künstlerkollegen wie Gerhard Richter und Günther Uecker treten in Protestnoten erfolglos für Beuys ein. 1974 aber erhält er eine Gastprofessur in Hamburg.

    Ab 1964 und bis nach seinen Tod ist Joseph Beuys mit seinen Werken regelmäßig – das heißt, siebenmal – auf der Weltkunstausstellung documenta in Kassel vertreten, 1972 mit „Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Documenta V“ und einem Informationsbüro für die „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“, 1977 mit der von ihm initiierten „Freien internationalen Universität“ sowie der „Honigpumpe am Arbeitsplatz“, 1982 mit „7000 Eichen“, 1992 mit „Wirtschaftswerte“. Auch zur Gestaltung des Deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig ist Joseph Beuys 1976 eingeladen. Dort zeigt er seine „Straßenbahnhaltestelle“, heute im holländischen Otterlo zu sehen.

    1967 gründet Beuys die Deutsche Studentenpartei, deren Ziel u. a. die geistige Mündigkeit des Bürgers ist – neben einem geeinten Europa und deutscher Waffenächtung. Der eingetragene Verein geht letztlich auf in der „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“. Von 1977, als in Deutschland „grüne Listen“ gegründet werden, bis zu seinem Tod 1986 ist Beuys Mitglied der „Grünen“, an deren Gründungsversammlung 1980 in Karlsruhe er auch teilnimmt. Eine Bundestags-Kandidatur 1983 in Nordrhein-Westfalen zieht er zurück, nachdem er nicht auf einem der vorderen Plätzen gelistet ist.

    Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt anlässlich des 100. Geburtstag von Beuys die Ausstellung Joseph Beuys: Der Raumkurator.In ihr wird die Entstehung des Beuys-Raums in der Staatsgalerie, 1984 vom Künstler selbst mit seinerzeit sechs neuen Werken eingerichtet und bis heute unverändert, anhand von Fotografien, Filmen und Objekten erläutert.

    Kuratorin Ina Conzen: „Beuys starb vor über 30 Jahren, aber als vehementer Verfechter von ökologischen, basisdemokratischen und spirituellen Belangen ist er von geradezu verblüffender Aktualität.“ Die Schau als Ort gesellschaftlicher Debatte läuft bis 18. Juli 2021.

    Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf präsentiert unter dem Titel Jeder Mensch ist ein Künstler einen Einblick in das Denken von Beuys – wie es sich in seinen Aktionen manifestierte. In der Ausstellung treten zeitgenössische Künstler neben Vertretern aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen mit Beuys als Aktionskünstler in Dialog. Dabei bildet jeweils eine Beuys-Arbeit den Ausgangspunkt für Gegenüberstellungen mit u. a. Phyllida Barlow, Angela Davis, Bob Dylan, Jenny Holzer, Michel Houellebecq, Patti Smith, Edward Snowden, Greta Thunberg. Ausstellungsdauer bis 15. August.

    Drei Buch-Empfehlungen: Die Werkübersicht 1945–1985, herausgegeben Mitte der 1990er Jahre von Lothar Schirmer im Verlag Schirmer/Mosel, gehört zur Standard-Literatur; 239 Seiten mit Einführung von Alain Borer. Zu sieben geführten Spaziergängen entlang der 7000 Eichen in verschiedenen Stadtteilen von Kassel lädt der handliche Führer Beuys to go von Karin Thielecke und Lutz Kirchner ein (145 Seiten). Erschienen im Verlag euregio. Derselbe Verlag hat auch die Dokumentation Beuys 100 mit Schwerpunkt 7000 Eichen herausgegeben. Beiträge von u. a. Johannes Stüttgen und Hans Eichel (152 Seiten).

    Schon zwei Jahre zuvor, kurz nach dem Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe, hatte Beuys erklärt: „Ich weiß, dass schon morgen Menschen zu den Grünen kommen werden, weil es gar keine andere Möglichkeit gibt in dieser Gesellschaft, als sich in eine Gemeinschaft von Menschen zu begeben, die ... an den ökologischen Fragen, an den Fragen des Lebens von Mensch und Natur, intensiv und kompromisslos arbeiten wollen.“ Heute bleibt tiefstapelnd zu konstatieren: Unrecht hat er nicht gehabt. Und der Klimawandel treibt’s voran.

    Das Nebeneinander von Erstarrtem und Wachsendem

    Freilich können Eichen – und andere Bäume – zum Wohl des Menschen auch ohne Basaltstelen gepflanzt werden. Warum Beuys die häufig sechseckigen Lava-Kristallisationen neben den Jungbäumen aufrichten ließ, hat in erster Linie den einfachen Grund: „Der Stein macht jeden von mir gepflanzten Baum zu einer Skulptur, zu einem Kunstwerk.“ Aber man darf auch tiefer schürfen und auf grundsätzliche Dualitäten im Werk von Beuys hinweisen. Bei den „7000 Eichen“ beispielsweise besteht die Dualität im Nebeneinander von Erstarrtem und Wachsenden, von Tod und Leben – ganz abgesehen davon, dass der Basalt über die Jahrzehnte und Jahrhunderte Spurenelemente an die Wurzeln der Bäume abgibt.

    Aber wer glaubt, dass in Kassel nur Eichen das Kunstwerk ausmachen, geht fehl. Natürlich sind es hauptsächlich Eichen – womit Beuys auf erwartbares Lebensalter sowie die mythischen, spirituellen und historischen Bedeutungen der Art anspielen wollte –, aber eben nicht nur. An die 20 Baumarten – von der Blutpflaume bis zur Zierkirsche – gehören heute zum Bestand, der nach letzter Zählung 6983 Bäume umfasst, wie Volker Schäfer, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung „7000 Eichen“ erklärt. Er, früher einmal Kulturdezernent Kassels, bestätigt auch, dass mittlerweile – eben aufgrund des Klimawandels – nur noch im Herbst jene Bäume ersetzt werden können, die beispielsweise eingingen oder beschädigt wurden oder wegen Bauvorhaben entfernt sind.

    Beuys goss aus einer Zarenikone einen Friedenshasen

    Eine weitere Schwierigkeit, 1982 die „7000 Eichen“ zu errichten, war die Finanzierung des Projekts. Gut 500 Deutsche Mark wurden pro Baum, Stele und Pflanzung an Kosten veranschlagt – beziehungsweise 4,3 Millionen Gesamtkosten. Zwar half die New Yorker „Dia Art Foundation“, die auch schon den Erdkilometer bezahlt hatte, mit einer Anschubfinanzierung, doch dann stockte der Geldfluss. Beuys und seine Helfer und Befürworter mussten sich Originelles ausdenken, um weiterpflanzen zu können – neben den üblichen Künstler-Finanzierungsmodellen wie Kunst-Editionen und Fan-Artikel.

    Das Originelle aber waren: das Einschmelzen der Replik einer Zarenkrone Iwans des Schrecklichen, woraus Beuys – unter Protest – einen Friedenshasen goss und für 777.000 Mark einem Sammler verkaufte; der Auftritt des Künstlers in einer Werbekampagne für einen japanischen Whisky (400.000 Mark) und eine Hilfsaktion von 34 Künstlerkollegen, die eigene Werke versteigern ließen (eine Million Mark) – darunter Andy Warhol, Robert Rauschenberg und Jannis Kounellis. So bleibt festzuhalten, dass zur Aktion „7000 Eichen“ auch jene Kunst gehörte, die ebenso zur Kunst Christos gehörte: das Überwinden von politischen, gesellschaftlichen und finanziellen Gegenkräften.

    Am 23. Januar 1986 starb Joseph Beuys. Am 12. Juni 1987 pflanzten seine Frau Eva und sein Sohn Wenzel zur Eröffnung der documenta 8 auf dem Friedrichsplatz die Eiche Nummer 7000 neben der erste Eiche.

    Zu Beuys sind in unserem Plus-Bereich auch noch folgende Artikel erschienen:

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