Eigentlich gehören die Haare ja in den Bereich, der unter dem Stichwort "Privat" eine Angelegenheit zwischen dem Frisierhandwerk und seiner Kundschaft ist: kurz oder lang, bunt oder in Locken. Also müsste das Schreiben über Haare sich mit den Moden beschäftigen, zum Beispiel, ob der Undercut noch das Nonplusultra von Bundesligaprofis ist, oder aber ob es da nicht Ähnlichkeiten zu einem gewissen Fassonschnitt gibt, dem Gerhard Polt einmal einen Sketch gewidmet hat.
Uneigentlich verhält es sich anders, können die Haare allerlei Botschaften übermitteln. Beispiel gefällig? Man schneide sich nur einmal einen Irokesenschnitt, färbe diesen knallbunt ein und schaue, wie die Umwelt darauf reagiert und für wen sie einen dann hält. Wer sich in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren als Mann die Haarpracht einfach wuchern ließ, zählte zu den Hippies oder sympathisierte mit ihnen.
Kim de l'Horizon schor sich die Haare auf der Bühne
Auch heute können Haare etwas sagen. So geschehen am Montagabend in Frankfurt am Main, als bekannt gegeben wurde, dass Kim de L'Horizon für den Roman "Blutbuch" mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Kim de l'Horizon lehnt für sich die Geschlechtsbezeichnungen von Frau und Mann ab, verortet sich woanders und hat dieses Lebens- und Existenzthema zum Mittelpunkt des Romans gemacht. Nach der Dankesrede hielt Kim de l'Horizon mit dem Satz "Dieser Preis ist nicht nur für mich" inne, plötzlich einen Rasierapparat in der Hand und schor sich auf der Bühne die Haare. Eine Geste, die im Literaturbetrieb sofort Erinnerungen an Rainald Goetz aufkommen ließ, der sich 1983 beim Klagenfurter Bachmannpreis vor laufender Kamera mit einer Rasierklinge die Stirn aufschnitt und stark blutend seinen Text vortrug – ein legendärer Moment, zu dem sich nun ein weiterer gesellt.
Allerdings griff Kim de l'Horizon etwas anderes auf: den Protest der iranischen Frauen gegen das Mullah-Regime. "Wir können nur von diesen Frauen lernen, die so mutig sind, die so unglaublich stark sind, die überhaupt nicht in unser westliches Bild von Weiblichkeit hineinpassen." Und fügte dann noch hinzu: "Ich habe nie in diese Vorstellung von Geschlecht hineingepasst, in die Vorstellung, wie mein Körper aufwachsen soll, in was für einen Erwachsenenkörper ich hineinwachsen soll." Der Haarschnitt auf offener Bühne war ein symbolischer Akt mit doppelter Bedeutung: Solidaritätsbekundung hier, Übertragung aufs eigene Schicksal und das anderer zwischen den Geschlechtern lebender Menschen dort.
Schauspielerinnen schnitten sich aus Solidarität mit iranischen Frauen die Haare ab
Bekannte Schauspielerinnen in Frankreich und dann auch in Deutschland haben auf ähnliche Weise bereits ihre Solidarität mit den Frauen im Iran ausgedrückt und haben sich vor laufender Kamera Strähnen abgeschnitten, ebenfalls symbolische Akte. Die Frauen im Iran allerdings riskieren mit dem Haarschnitt mehr. Es ist dort eine Tat, ein Bekenntnis, zu denen zu gehören, die offen gegen das gewalttätige und brutal agierende Regime aufbegehren. Es ist gefährlich.
Frauenhaare sind im Iran nicht nur eine Angelegenheit der Frauen, sondern auch der Religion. Seit der islamischen Revolution 1979 ist es den Frauen verboten, ihre Haare offen zu tragen. Außerdem müssen sich Frauen in lange und weite Gewänder kleiden, um die Körperfigur zu verschleiern. Am 13. September haben Sittenpolizisten in Teheran Mahsa Amini wegen ihrer unislamischen Kleidung festgenommen, angeblich, weil ihr Haupthaar unter dem Kopftuch zu sehen gewesen sei. Drei Tage später starb die junge Frau in einem Krankenhaus. Ihre Eltern sagen, dass die offizielle Version, sie sei an einer Vorerkrankung gestorben, gelogen sei. Seitdem protestieren die Menschen in immer größerer Zahl im Land, obwohl die Sicherheitskräfte äußerst brutal vorgehen.
Zuletzt geriet die iranische Kletterin Elnas Rekabi in die Schlagzeilen, weil sie bei der Asienmeisterschaft in Süd-Korea kein Kopftuch trug. Diese Bilder gingen als politische Botschaft um die Welt. Bei ihrer vorzeitigen Rückkehr in den Iran wurde sie von einer großen Menschenmenge am Flughafen empfangen und gefeiert. Auf ihrem Social-Media-Kanal entschuldigte sich die Sportlerin indes dafür, das Kopftuch nicht getragen zu haben. In der Eile habe sie es vergessen. Insider vermuten allerdings, dass Druck auf Rekabi ausgeübt wird oder aber jemand anders diese Nachricht in ihrem Namen geschrieben hat. Im Iran riskieren Frauen mit ihren Haaren ihr Leben.