Herr Gabriel, die aktuelle Krise von Energie, Inflation und Wohlstand hat praktisch alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Ängste wirken allgegenwärtig und mächtig. Wie angemessen ist die Reaktion?
Markus Gabriel: Wir befinden uns insgesamt in einer ausgesprochen bedrohlichen Lage, die unsere Aufmerksamkeit und Bereitschaft zu handeln fordert. Allerdings ist Angst hier wie sonst ein schlechter Ratgeber. Wir brauchen optimistische Lösungsvorschläge und einen positiven Zukunftsblick, um die Krisen zu meistern, die allesamt völlig real sind.
Von den Deutschen heißt es oft, Sie hätten ein besonderes Verhältnis zu Sicherheit und Stabilität – aber auch zur Angst. Zeigt sich das auch hier?
Gabriel: Sicherheit, Stabilität und damit Frieden sind hohe Werte, die wir nicht durch angstgesteuertes Verhalten, sondern durch eigenverantwortliche und kollektive Lösungen bewähren und voranbringen müssen. In Deutschland neigen wir zu sehr dazu, der Angst den Vorrang einzuräumen, was leider oftmals zu einer Überschätzung der faktischen Risiken und damit zu Fehlern führt. In der gegenwärtigen Gefahrenlage dürfen wir uns allerdings keine Illusionen machen. Vor allem der russische Angriffskrieg und seine Gefahren sind mindestens so bedrohlich, wie sie uns erscheinen.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass diese akute Krise nicht zu größeren politischen und sozialen Verwerfungen wird?
Gabriel: Die akuten Krisen führen sicherlich zu größeren Verwerfungen. Es kommt darauf an, auf diese bereits jetzt gesellschaftliche Antworten auszuarbeiten. Das kann nicht allein Aufgabe der Politik beziehungsweise der Regierung sein. In einer Demokratie sind wir alle Teil der Politik, das Volk ist bei uns Souverän, und die Regierung repräsentiert uns. Das ist eine Errungenschaft, bedeutet aber, dass wir uns mündiger verhalten müssen und nicht nur abwarten dürfen, was die jeweiligen Krisenminister mitteilen.
In Ihrem neuen Buch nehmen Sie die viel größere Krise unserer Zeit in den Blick, die Klimakrise, die derzeit etwas aus dem Fokus zu geraten scheint – in der es aber, so konstatieren Sie darin, um nicht weniger gehe als das Überleben oder die Selbstausrottung der Menschheit. Wie lange können wir uns da noch leisten, den Fokus auf Aktuelleres zu fixieren, wie lange haben wir noch Zeit?
Gabriel: Wir wissen nicht, wie lange wir genau Zeit haben, um uns auf die Katastrophen einzustellen, die zunehmend auf uns eintreffen werden. Letztlich haben wir in Wahrheit keine Zeit mehr, wie die beiden letzten Sommer – Flut gefolgt von Dürre – gezeigt haben. Es gibt aber keine kurzfristigen Lösungen, das ist das Neue der Lage. Wir müssen radikal umdenken, ohne dabei das Erbe des liberalen demokratischen Rechtsstaats zu gefährden. Die Lage ist dringlich und genau deswegen müssen wir uns Zeit lassen und gründlich nachdenken, ehe wir nervös reagieren.
Es muss, so schreiben Sie, um nicht weniger gehen, als dass der Mensch ein neues Verständnis von sich selbst entwickelt – und meint ja noch viel mehr: dass die ganze Menschheit das in ihrem Handeln auch umsetzt. Wie soll das gehen?
Gabriel: Jede unsere alltäglichen Entscheidungen hat Auswirkungen auf andere, im Beruf, im Alltag, im Konsum … Deswegen müssen wir lernen, in Alltagssituationen ethisch abgewogen zu urteilen. Letztlich handelt niemals die Menschheit oder ein Kollektiv, sondern immer nur die Einzelnen handeln, woraus sich dann die großen Effekte ergeben, die wir erleben. Wir müssen akzeptieren, dass unsere Handlungen, dass unsere Lebensweise Konsequenzen hat, für uns selbst und für andere.
Der vermeintliche Widerspruch zwischen Titel und Untertitel des Buches zeigt ja bereits, um welche Gratwanderung es geht: „Der Mensch als Tier“ und „Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen“. Ein Tier, das nicht in die Natur passt? Wie geht das?
Gabriel: Der Mensch ist das Tier, das keines sein will. Wir gehören als Tiere einerseits zur Natur, befinden uns aber auf Abstand zu ihr, weil in uns, wie der Philosoph Schelling dies ausgedrückt hat, „die Natur die Augen aufschlägt“. Im Menschen kommt die Natur und damit auch die Tierheit zur Selbsterkenntnis. Damit beginnt im Raum der menschlichen Geschichte etwas radikal Anderes, was uns zu Ethik, Wissenschaft, Freiheit und damit aber auch dazu befähigt, durch Technik und ungebremsten Ausbeutungswillen unsere eigene ökologische Nische, die sogenannte „Umwelt“ zu verwüsten.
Und was bedeutet das nun für die zukunftsrichtungsweisende Frage: Was ist der Mensch?
Gabriel: Weil wir nicht ganz zur Natur gehören, sondern über sie hinausragen, sind wir, das heißt: ist der Mensch das freie geistige Lebewesen. Das zeigt sich darin, dass wir unser Leben im Licht einer Vorstellung unserer selbst führen. Menschen haben Menschenbilder und Naturbegriffe, wir haben Vorstellungen davon, wie alles mit allem zusammenhängt. Das haben die anderen Lebewesen nicht. Genau deswegen ist und bleibt der Mensch etwas Besonderes. Ob wir etwas Gutes sind, wird sich noch herausstellen. Da wir frei sind, ist es unsere Aufgabe, das moralische Richtige zu finden und umzusetzen, was sich zu Recht in der heutigen Forderung nach Nachhaltigkeit in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Umweltethik ausdrückt.
Zum krisenhaft gewordenen und damit existenzgefährdenden Verhältnis zur Natur scheinen ja oft zwei Positionen auf, die Menschheit noch retten zu können. Die eine: Der zerstörerische Mensch kehrt quasi um und gliedert sich wieder ein in den großen Zusammenhang, aus dem er sich entfremdet hat. Die andere: Der Mensch kann die Veränderungen sowieso nicht mehr aufhalten und muss sie also mit seiner außerordentlichen Begabung zu Wissenschaft und Technik gestalten, die Welt neu gestalten …
Gabriel: Beides ist einseitig und damit falsch. Unsere außerordentliche Begabung hat uns ja in die Misere der Moderne gebracht, weil der moralische, humane und soziale Fortschritt dem technowissenschaftlichen Fortschritt hinterherhinkt. Wir brauchen deswegen eine Neue Aufklärung, die moralischen Fortschritt ins Zentrum aller gesellschaftlichen Prozesse rückt. Das bedeutet aber auch, dass die Idee eines Zurück zur Natur fehlgeleitet ist. Der Mensch ist und bleibt der Natur entfremdet, das ist Fluch und Segen, vor allem bedeutet es aber, dass wir Verantwortung für andere Menschen, nicht-menschliches Leben und den Planeten haben.
Eine mögliche Lösung hängt bei Ihnen mit dem Sinn des Lebens zusammen. Das müssen Sie erklären.
Gabriel: Nur den Sinn des Lebens zu erkennen, kann uns noch retten. Denn der Sinn des Lebens ist das gute Leben, das heißt: die Übernahme von Verantwortung mit der Absicht, die Menschheit auf dem moralischen Pfad voranzubringen mit gesamter Anstrengung. Das ist auch die ethische Grundlage des modernen, liberalen demokratischen Rechtsstaats, der nicht nur demokratische Verfahren zur Verfügung stellt – was erfreulich ist –, sondern diese Institutionen und Instrumente tatsächlich für den moralischen Fortschritt, für die Emanzipation der Menschheit von der selbst verschuldeten Unmündigkeit einsetzt.
Und was bedeutet das für den Einzelnen? Wie kann er dem entsprechen?
Gabriel: Es ist unsere Aufgabe, an unserer jeweiligen Position in der Gesellschaft, in unseren vielfältigen Rollen unsere Beiträge dazu zu leisten, dass moralisch richtige Entscheidungen getroffen werden. Dabei sind wir fehleranfällig und korrekturbedürftig, weswegen wir viel mehr offen miteinander diskutieren müssen, um den oftmals schwer erkennbaren richtigen Weg zu finden. Der Philosoph Jacques Derrida nennt dies eine „Politik der Freundschaft“, das ist in etwa das Gegenteil der heutigen Hass-, Angst- und Erregungskultur der sozialen Netzwerke.
Aber wird der notwendige Wandel nicht unweigerlich auch wieder Wohlstandseinbußen bringen, wie sie in viel kleinerem Umfang aktuell ja schon für solche Ängste sorgen und allein dadurch Folgen haben?
Gabriel: Nicht jeder ökonomische Wohlstand ist auch wünschenswert! Der Ökonom Dennis Snower hat mich davon überzeugt, dass materieller Wohlstand immer nur die Grundlage für sinnvoll gelebte zwischenmenschliche Beziehungen und niemals Zweck an sich selbst sein kann. Wirtschaftswachstum und Wohlstand dienen dem höheren Ziel sozialer Freiheit, ohne die es kein nachhaltiges individuelles Glück geben kann. Das bedeutet aber, dass wir gerade jetzt daran arbeiten müssen, dass die Verteilung materieller Ressourcen in unserer Gesellschaft die materiellen Grundbedürfnisse adäquat befriedigt. Ich halte nichts von der Verzichtdebatte, sondern denke, wir brauchen mehr Gemeinsinn, mehr Sozialstaat, damit die unvermeidliche sozio-ökonomische Transformation nicht zu mehr Ungleichheit führt, von der wir auch in Deutschland bereits viel zu viel haben.
Sind Sie zuversichtlich, dass das alles gelingen kann, dass die Menschheit rechtzeitig vor der Schwelle zur Selbstausrottung noch klug genug wird?
Gabriel: Ich bin tatsächlich sehr zuversichtlich und halte die letzten Jahre, spätestens seit Beginn der Pandemie auch für einen Moment der Erweckung, für den Beginn einer Neuen Aufklärung und damit eines tief greifenden Bewusstseinswandels, der den Namen einer Zeitenwende eher verdient als die leider auch notwendige Aus- und Aufrüstung der Bundeswehr.