Dave, Martin, die Depeche-Mode-Maschine rollt wieder. Seid ihr bereit?
Dave Gahan: Wenn du wieder als Depeche Mode in Erscheinung trittst, musst du vorbereitet sein, körperlich und mental. Ich habe schon Mitte 2022 angefangen, jeden Tag zu singen und meine Übungen zu machen. Täglich stehen bis zum Tourauftakt Ende März mindestens zwei Stunden Sport auf dem Programm, Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit, ich lerne meinen Körper gerade ganz neu kennen (lacht).
Hört sich schon auch anstrengend an.
Gahan: Ja, aber so muss es sein. Depeche-Mode-Unternehmungen gibt es nicht in kleinen Größen, sie sind immer gleich gigantisch. Viele Menschen schauen auf uns. Und ich verspreche, dass sie sich auf uns verlassen können.
Irgendwie klingt ihr ja auch auf der neuen Platte noch spritzig und voller Esprit.
Martin Gore: Das ist lieb, was du sagst. Doch auch wir können uns nicht davor drücken, dass wir tatsächlich älter geworden sind. Das ist ein Fakt. Mich hat es ein bisschen umgehauen, als ich 60 wurde. Für mich war das ein großer Wendepunkt. Und ein komischer Moment. Denn körperlich, mental und getrieben von meiner Liebe zur Musik fühle ich mich immer noch wie ein Jugendlicher.
Dave, du bist ein Jahr jünger als Martin und vergangenen Mai 60 geworden. War das für dich auch so hart?
Gahan: Nein, überhaupt nicht. Ich lebe in Frieden mit meinem Alter. Der runde Geburtstag hat mich nicht stärker mitgenommen als die anderen. Aber als ich fünfzig wurde, das war heftig. Ich weiß nicht, wieso. Mit sechzig wiederum hast du deinen Frieden mit vielen Aspekten des Lebens gemacht. Du beginnst dich ein bisschen lockerer zu machen und denkst „Das Gröbste hast du hinter dir“. Wir haben es ja sowieso nicht in der Hand und vor dem Alter können wir nicht fliehen. Wir alle werden jeden Tag einen Tag älter. Wir sollten das Beste daraus machen.
Steckt diese Botschaft auch im Titel eures neuen Albums? „Memento Mori“ heißt schließlich „Bedenke, dass du sterben musst“.
Gahan: Absolut. Das Leben ist endlich. Und es wird – nach allem, was wir wissen – auch kein weiteres mehr geben. Also sind wir auf der Welt, um dieses eine Leben zu genießen. Martin und ich haben mehr als die Hälfte unseres Lebens hinter uns. Wir sind noch nicht in der Nachspielzeit, aber definitiv auch nicht mehr in der ersten Halbzeit. Als Martin mit der Idee zu dem Titel ankam, fand ich ihn sofort toll. „Memento Mori“ klingt auch schön. Nach üppigen Bildern im Kopf. Nach großem Kino.
Kann man sagen, dass der Tod schon von Anfang an ein prägendes Thema für Depeche Mode gewesen?
Gore: Wir neigen schon zur dunklen Seite, zum Melancholischen, manchmal Morbiden. Dieses Mal allerdings war der Tod, war das Sterben, allgegenwärtiger. Die 60 war wie gesagt ein Weckruf, der mich nicht unberührt gelassen hat. Und es hat mich auch mitgenommen, wie vor allem zu Anfang der Pandemie die Toten praktisch per Liveticker gezählt wurden.
Dave, du wärst ein paar Mal fast tot gewesen. In deiner Patientenakte stehen unter anderem ein Suizidversuch, ein Herzstillstand nach Drogenüberdosis und ein Blasentumor. Stehst du dem Leben anders gegenüber, wenn du mit dem Tod bereits intim warst?
Gahan: Manchmal umschleicht mich der Gedanke an den Tod, aber ich hoffe sehr, er holt mich nicht so bald. Denn ich liebe mein Leben, meine Frau, unsere mittlerweile erwachsenen Kinder, die Freunde, unsere Katzen. Es macht mich glücklich, mit denen zusammen zu sein. Und ich brauche gar nicht viel. Ich liebe schöne Abende bei gutem Essen und guten Unterhaltungen. Mit 30 wäre ich stattdessen immer auf der Suche nach der nächsten Ekstase, der nächsten Eskalation gewesen. Mit 60 blicke ich voller Dankbarkeit auf mein Leben und die kleinen Freuden des Alltags.
Wie zum Beispiel?
Gahan: Spaziergänge am menschenleeren Strand der Hamptons, wo wir ein Ferienhaus haben, am liebsten im Winter.
Martin, du lebst in Santa Barbara. Läufst du dort auch viel am Wasser?
Gore: Mich zieht es eher zum Wandern in die Berge.
Am 26. Mai 2022, mitten in der Albumproduktion, starb urplötzlich euer Keyboarder Andrew Fletcher an einem Riss der Hauptschlagader. Wie habt ihr auf den Schock und den Verlust eures Freundes reagiert?
Gore: Mit Entsetzen. Niemand hat das kommen sehen. In der ersten Phase ging es nur darum, zu funktionieren. Dabei hat uns die Arbeit sehr geholfen. Wir haben weiter gemacht mit „Memento Mori“, unsere Gehirne irgendwie beschäftigt gehalten, uns betäubt.
Stand die Band als solche zur Debatte?
Gore: Nein, ich rief Dave an und sagte zu ihm: „Wir sollten weitermachen, oder?“ Dave stimmte mir sofort zu, es gab in diesem Punkt keine zwei Meinungen. Wir waren froh, dass wir die Musik hatten. Mental war es wichtig, uns auf Depeche Mode fokussieren zu können.
Gahan: Aber durch Andys Tod ist nichts mehr, wie es war. Es sind nur noch wir zwei übrig. Gore: Wir müssen ganz neu lernen, wie wir miteinander umgehen, miteinander arbeiten. (Pause). Die erste Fotosession mit Anton Corbijn, das erste Video mit Anton, das erste Mal zusammen im Probenraum - das ist anders, als es mit Andy war.
Hat sich euer Verhältnis durch den Tod eures Freundes und Kollegen verändert?
Gore: Ja. Wir sind immer noch dabei, herauszufinden, wie die Dinge zu zweit funktionieren. Dave und ich hatten nie so eine extrem enge Bindung, wir standen uns immer auch etwas reserviert gegenüber.
Gahan: Wir hatten nie darüber gesprochen, was aus unserer Band wird, wenn einer von uns nicht mehr da ist. Nun ist jede Entscheidung, die wir treffen, eine Entscheidung von uns beiden. Das heißt, es gibt kein 2:1 mehr. Sondern wir haben keine andere Wahl, als strittige Fragen auszudiskutieren. Wir kommunizieren viel intensiver und einfach auch mehr als früher.
Gore: Wir hatten uns zum Beispiel früher nie online unterhalten, jetzt machen wir das ständig. Und wir reden auch mehr über persönliche Dinge. „Wie geht es der Familie“, und solche Sachen. Das war früher auch nicht so alltäglich bei uns.
Gahan: Ein bisschen ist es so, als würden wir uns nach mehr als vierzig Jahren gerade zum zweiten Mal kennenlernen.
Welches ist der neueste Song auf „Memento Mori“?
Gore: Das ist gleich der erste, „My Cosmos Is Mine“. Ich schrieb ihn kurz, nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte. Ich dachte „Wie viel sollen wir denn noch ertragen? Was wird uns noch alles zugemutet?“ Und meine erste Reaktion war zu sagen: Ich ziehe mich in meine eigene kleine Welt zurück, lasst mich alle in Ruhe. In dem Song geht es darum, inmitten der Machtlosigkeit sein Innerstes zu schützen gegenüber den Stürmen der Welt und sich, zusammen mit seinem Liebsten, am liebsten irgendwo verkriechen zu wollen. Was natürlich kurzsichtig ist, denn wir müssen die Verantwortung für unsere Erde übernehmen, sonst werden wir bald alle nicht mehr hier sein.
Wird sich das Gute im Menschen denn langfristig durchsetzen?
Gore (seufzt): Ich weiß nicht, ob ich mich langsam in einen grantigen alten Mann verwandele. Aber: Als Engländer, der seit vielen Jahren in Amerika lebt, verzweifele ich schon sehr, wie gespalten dieses Land ist. Manchmal denke ich, das endet irgendwann wieder in einem Bürgerkrieg. Und dann noch die ganzen tatsächlichen Kriege auf der Welt, mein Gott, das lässt mich nicht gerade an die Menschlichkeit glauben.
Was sagst du zu Russland?
Gore: Wir waren viele Male in Russland. Für mich fühlte sich die Gesellschaft zwar nicht so fortschrittlich denkend wie der Rest Europas an, aber wir hatten auch nicht den Eindruck, wir wären noch im Kommunismus. Russland hat den Kapitalismus wirklich umarmt. Es ist einfach ein vollkommen irrer und abwegiger Gedanke, die Ukraine zu überfallen. Warum nur? Nein, ich glaube nicht, dass Menschen grundsätzlich gut sind.
Du hast fünf Kinder, zwei davon sind noch klein. Wie ermutigst du sie, an eine positive Zukunft zu glauben?
Gore: Meine Kinder tun mir leid. Das allergrößte Problem ist natürlich die Natur, das Klima. Die Staatengemeinschaft macht es sich sehr leicht, sich zu Zielen zu bekennen, die 2035 oder 2050 erreicht werden sollen. Möglicherweise ist das viel zu spät. Ich kann nachvollziehen, warum einige Umweltaktivisten mehr und mehr gewalttätig werden. Auch in mir verfestigt sich der Eindruck, dass jetzt sofort schon mehr getan werden muss und nicht erst in zehn oder zwanzig Jahren.
Das Jahr der Bandgründung ist 1980. Jetzt haben wir 2023. Blinzelt ihr gelegentlich schon bis zum 50. Dienstjubiläum nach vorne?
Gahan: Unsere Lieder sind für mich Lebensbegleiter. Und diese Band ist es auch. Jetzt gerade müsste ich mich anstrengen, mir ein Leben ohne Depeche Mode vorzustellen. Aber frag’ mich nach der Tour noch mal (lacht).
Gore: Machen wir uns nichts vor. Wenn die Tour nach Plan läuft, sind es 45 Jahre, wenn wir fertig sind. So. Dann wären es nur noch fünf. Wir pirschen uns so langsam an das halbe Jahrhundert ran, und je näher wir kommen, desto größer wird die Chance, dass wir es auch erreichen.