„Tár“ ist eine Geschichte über eine Dirigentin, die sich in einem von Männern dominierten Metier durchgesetzt hat und dann in die Fallstricke eines Skandals gerät. Was ist aus Ihrer Sicht das eigentliche Thema dieser Geschichte?
Cate Blanchett: Diese Geschichte hat eine ganze Menge von Tentakeln. Heute morgen beim Aufwachen dachte ich mir, dass das eine Meditation über die Macht ist. Und zwar nicht nur die Macht von Institutionen, sondern über die ungleiche Machtverteilung zwischen Individuen.
Und auch darüber, wie Macht den Einzelnen verändert?
Blanchett: Dirigenten sprechen gerne vom Orchester als ihrem Instrument, aber Letzteres besteht ja aus Einzelpersonen, auf die sie einwirken. Meine Figur hat diese Macht. Ursprünglich hat sie das System der klassischen Musik, das, wie Sie schon sagten, von Männern kreiert und gesteuert wird, herausgefordert. Was passiert nun mit so jemand, der selbst Teil des Systems geworden ist? Wird er oder sie von der Macht verzehrt und zerstört? Und wenn man an der Spitze des Systems angekommen ist, geht es dann nur noch bergab? Meine Figur hat den absoluten Höhepunkt erreicht und so fragt sie sich, was darauf noch folgen kann. Besteht der nächste Schritt womöglich darin, alles kaputt zu hauen? Ist das die wahre Absicht, die irgendwo in ihrem Unterbewusstsein steckt? Ich gebe zu, das ist eine etwas weitschweifige Antwort.
Bei „Tár“ hat man das Gefühl, dass Sie in jeder Szene auftreten ...
Blanchett: Oh, das tut mir wahnsinnig leid.
Haben Sie, wenn Sie solche Rollen annehmen, nicht das Gefühl, dass Sie Ihre Karriere und damit auch Ihre Macht fördern könnten? Für Ihre Dirigentinnen-Rolle in „Tár“ könnten Sie ja Ihren dritten Oscar gewinnen?
Blanchett: Das Kriterium, das bei meiner Rollenwahl entscheidend ist, ist meine Verantwortung gegenüber meinen vier Kindern. Ich überlege garantiert nicht, ob ich besonders viele Szenen habe. Ich frage mich einfach: Will ich Teil dieser Geschichte sein? Ich spiele ja auch Nebenrollen.
Nichtsdestoweniger haben Sie in der Branche Macht. Wie üben Sie diese aus?
Blanchett: Mit sehr viel Rücksichtnahme.
Das ist die kurze Antwort. Wie würde die ausführliche lauten?
Blanchett: Sie meinen, wie verkorkst ich bin? Genauso so sehr wie alle anderen. Ich gebe zu: In gewisser Weise habe ich unglaublich viel Macht. Ich bin eine weiße Frau, bin finanziell abgesichert, ich habe alle Stufen des Bildungssystems durchlaufen. Ich führe eine liebevolle Beziehung, kann arbeiten und bin bei guter Gesundheit. Aber es gibt Grenzen. Als ich mit meinem Mann 2008 die Sidney Theatre Company übernahm, effektiv also die australische Nationalbühne, wussten wir: Wir konnten nicht einfach aufmarschieren, als seien wir die Vorstandsvorsitzenden. Wir mussten uns als Teil eines Ensembles sehen. Du musst wissen, wann und wie du deine Macht einsetzt.
Gelten dabei für Frauen und Männer andere Regeln?
Blanchett: Männliche Regisseure zum Beispiel versuchen oft den Eindruck zu erwecken, dass sie alles unter Kontrolle haben. Dabei ist es der beste Stärkebeweis, wenn du sagst ‚Ich weiß noch nicht, was ich machen soll.‘ Denn die Leute erwarten immer sofort eine Antwort. Inzwischen ändert sich das. Aber wenn ein Mann seine Ratlosigkeit eingesteht, dann ist die Reaktion oft die: „Wow, das ist aber eine interessante Haltung.“ Wenn dagegen eine Regisseurin so etwas sagt, dann kannst du spüren, wie der Rest der Crew sich denkt: „Oh mein Gott, das kann aber ein langer Dreh werden.“
Das heißt, nach Ihren Erfahrungen werden in der Kulturbranche Frauen weiterhin anders bewertet als Männer?
Blanchett: Ich kann Ihnen jetzt nur einzelne Beispiele nennen. „Tár“ dreht sich um eine Aufführung von Mahlers Fünfter. Aus dem Grund habe ich mir eine Dokumentation angeschaut, in der natürlich auch die Rolle seiner Frau Alma beleuchtet wurde. Und ich dachte mir: Was für ein grässliches, talentloses Wesen, das ihn kreativ ausgesaugt hat. Was hat sie mit diesem Menschen nur gemacht? Aber am Schluss begriff ich, dass diese Urteile alle von Männern stammten. Keine einzige Frau kam zu Wort. Dabei muss man sich im Klaren sein, dass jeder Kreative von anderen Menschen unterstützt wird, die ihm helfen, sein Werk in die Welt zu setzen. Natürlich kommt es dabei zu Fehlverhalten, aber wir müssen die ganzen Hintergründe verstehen.
Was wiederum die Frage aufwirft, ob man Künstlerinnen und Künstlern ihr moralisches Fehlverhalten vorwerfen soll, was auch Ihrer Figur geschieht. Momentan werden ja derartige Diskussionen im Kontext der ‚Cancel Culture‘ geführt.
Blanchett: Es ist wichtig, gesunde Kritik zu üben. Aber wenn wir zum Beispiel bestimmte Bücher aus der Vergangenheit nicht lesen, weil wir aus heutiger Sicht an bestimmten Elementen Anstoß nehmen, dann können wir nie verstehen, wie die Menschen damals gedacht haben. Und wir werden die Fehler von früher wiederholen. Ist das Werk Schopenhauers außergewöhnlich? Natürlich ist es das. In Picassos Privatleben geschah sicherlich Fragwürdiges, aber ist sein „Guernica“ eines der größten Kunstwerke aller Zeiten? Absolut. Es gibt allerdings zu diesem Themenkomplex keine eindeutigen Antworten. Ich bin deshalb viel mehr daran interessiert, Fragen zu stellen.
Würden Sie gerne Rollen tauschen und Fragen stellen, statt Antworten zu geben?
Blanchett: Das ist freilich das Problem, was ich mit Interviews habe. Denn meine Aussagen werden in eine fremde Sprache übersetzt, und dann vielleicht zurück ins Englische. Und plötzlich steht da die Schlagzeile in der Welt: „Ich finde, dass Schopenhauer ein Arschloch war und dass wir seine Werke nicht lesen sollten.“ Deshalb gibt es für mich auch keine eindeutige Antwort, wovon dieser Film handelt. Ich wollte mit Regisseur Todd Field arbeiten, weil er ein so bemerkenswertes Drehbuch schrieb, in dem es vor spannenden Fragen nur so wimmelte.
Waren Sie in Ihrer eigenen Karriere nie mit konkreten Situationen konfrontiert, in denen ein künstlerisches Resultat unter moralisch fragwürdigen Umständen zustande kam?
Blanchett: Doch, durchaus. Als ich 22 Jahre alt war, also frisch aus der Schauspielschule kam, sollte ich in einer Inszenierung von David Mamets „Oleanna“ spielen, in der eine Studentin ihren Professor der sexuellen Belästigung bezichtigt. Das Stück regte mich so auf, dass ich meine Ausgabe durchs ganze Zimmer schmiss. Ich fand dessen Aussage einfach furchtbar. Dann las ich es noch einmal – die gleiche Reaktion. Ich kam dann zur Probe, voller Vorurteile und Gedanken, die ich alle loswerden wollte. Ich begann loszulachen, und der Regisseur stoppte die Proben und nahm mich ins Gebet. Genauer gesagt: Er brüllte mich an: „Wofür halten Sie sich? Sie stehen der ganzen Inszenierung im Weg. Wenn Sie das bei der Premiere gemacht hätten, würde ich Sie feuern.
Wie haben Sie reagiert?
Blanchett: Ich begann loszuheulen. Mein Spielpartner meinte, er hätte noch nie so viel Rotz und Wasser aus einer Person kommen sehen. Ich dachte mir, das war’s mit meiner Karriere. Aber dann meinte der Regisseur: „Jetzt stehen Sie auf und spielen das noch mal.“ Und diese Erfahrung hat meine Beziehung zu meinem Job grundlegend verändert. Denn ich habe es gelernt, meine Figuren völlig unvoreingenommen zu spielen. Auf diese Weise konnte das Stück seine unmittelbare Wirkung auf das Publikum entfalten. Es gab im Foyer die heftigsten Diskussionen, ich glaube, manche der Zuschauer ließen sich danach scheiden. Aber wenn mir das alles heute passiert wäre, dann hätte ich in die Personalabteilung laufen, mich beschweren und sagen können: „Ich bin durch das Verhalten dieses Mannes total traumatisiert.“
Aber das würde bedeuten, dass heutzutage womöglich herausragende schauspielerische Leistungen nicht zustande kommen, weil die Betreffenden in die Personalabteilung laufen.
Blanchett: Ich denke trotzdem, dass sich das System ändern muss. Es ist ein hoch komplexes Thema. Als wir das Theater leiteten, fanden wir uns mit der Frage konfrontiert, wie wir Rollen ethnisch divers besetzen. Wie können wir die unterschiedlichen Kulturen repräsentieren? Wir befinden uns in einem Prozess, und dabei ist es eben wichtig, Fragen zu stellen. Nur, wie gesagt, das System kann nicht so bleiben, wie es ist. Denn wenn die Menschen die Erfahrung machen, dass dieses System sie grundlegend benachteiligt, wollen sie es zerstören. Die Reaktion ist eine Wut, die man tiefer analysieren sollte. Das alles führt dann zu Verallgemeinerungen. Wir finden uns deshalb in der Diskussion um ‚Cancel Culture‘ wieder und erleben eine Zeit der Aufgewühltheit, die der Film widerspiegelt. Doch letztlich kann ich nur eines sagen: Ich weiß es nicht.