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Bildung: Schule der Zukunft: Wie kann der Aufbruch gelingen?

Bildung

Schule der Zukunft: Wie kann der Aufbruch gelingen?

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    Im Schmuttertal-Gymnasium in Diedorf müssen sich schon die Fünftklässler gut organisieren, denn in den offenen Lernlandschaften ist eigenverantwortliches und selbstständiges Lernen angesagt.
    Im Schmuttertal-Gymnasium in Diedorf müssen sich schon die Fünftklässler gut organisieren, denn in den offenen Lernlandschaften ist eigenverantwortliches und selbstständiges Lernen angesagt. Foto: Marcus Merk

    Alle Krisen unserer Zeit wirken sich auch auf die Schulen aus. Corona mit all den Problemen in Lehre und Infrastruktur, die sich da offenbarten; der Ukraine-Krieg mit den Folgen einzugliedernder Flüchtlingskinder und zu bewältigender Energieknappheit … Und dann sind da ja noch die ureigensten Krisen wie der Lehrkräftemangel, veraltete Gebäude … Wie soll, so nötig er auch erscheinen mag, ein Aufbruch in ein besseres Morgen gelingen?

    Eine Schule, die schon mit eineinhalb Beinen in der Zukunft steht, ist das Schmuttertal-Gymnasium in Diedorf. Feste Plätze im Klassenzimmer gibt es dort nicht mehr, stattdessen offene „Lernlandschaften“, Desksharing wie in Firmen, die sich selbst innovativ nennen. Dreieckige Tische statt der alten hölzernen Schülerpulte, die sich zu Teamarbeitsplätzen zusammenschieben lassen oder sternförmig, dann an einer Seite offen für die Lehrkraft.

    Die Tür zum Raum ist mehr ein Tor, steht immer offen als Verbindung zu einem weiteren Lernbereich in Holzbauweise, mit Loungemöbeln, Hochtischen, Computern. Hier ist vieles idealer als anderswo: Kinder aus meist vergleichsweise gutem Haus lernen mit bislang noch genügend Lehrkräften. An Gymnasien schlägt der Lehrermangel erst Mitte des Jahrzehnts zu.

    Am Gymnasium in Diedorf arbeiten Schüler in Lernlandschaften

    Schulleiter Günter Manhardt ist sich sicher: „Unsere Räume ermöglichen zeitgemäßes Lernen.“ Natürlich, das muss er sagen. Aber tatsächlich ist das Konzept des Gymnasiums, in dem Architektur und Pädagogik ineinandergreifen, schon mehrfach ausgezeichnet. „Instruktive Phasen“, wie Manhardt sagt, wechseln sich hier ab mit Teamarbeit, in 40 bis 50 Prozent der Unterrichtszeit arbeiten Schülerinnen und Schüler im besten Fall selbstständig. In der Lernlandschaft lösen sie die ihnen gestellten Aufgaben so, wie sie es für zielführend halten – am PC, in einer Gruppenarbeit, einer Debatte in Polstermöbeln.

    Offene Lernlandschaften sind ein Merkmal des Schmuttertal-Gymnasiums Diedorf, des neuesten Gymnasiums im Landkreis Augsburg.
    Offene Lernlandschaften sind ein Merkmal des Schmuttertal-Gymnasiums Diedorf, des neuesten Gymnasiums im Landkreis Augsburg. Foto: Marcus Merk

    Das soll mehr vermitteln als nur das reine Wissen. Vor allem zwei Fähigkeiten, die Schulleiter Manhardt bei einer Führung durch das Schulhaus immer wieder erwähnt: „Erziehung zur Selbstständigkeit. Und Kooperationsfähigkeit.“ Das sind für ihn zwei Elemente, die Schule heute haben muss, um Kinder und Jugendliche auf die fragile Welt vorzubereiten, die sie draußen erwartet. „Sich Wissen selber beibringen, es sich zusammen mit anderen zu erschließen, darauf kommt es an. Dann bereitet Schule aufs Leben vor. Und dafür braucht es eben auch die geeigneten Räume.“ Einen Computerraum? Interessanterweise nicht mehr. Stattdessen PC-Arbeitsplätze im ganzen Haus verteilt, Tablets. „Man sagt ja auch nicht zu Hause: Ich muss eine Mail schreiben, ich gehe jetzt in unseren Computer-Raum“, erklärt Manhardt.

    Experte sagt: "Wir brauchen Lehrkräfte mit Haltung."

    Szenenwechsel zur Universität Augsburg. Hier, in einem 70er-Jahre-Bau mit viel Sichtbeton und farblich geordneten Fachbereichen, werden die Lehrkräfte der Zukunft ausgebildet. Braune Teppiche und Papieraushänge konservieren eine Atmosphäre des Analogen. An der Pinnwand der Grundschulpädagogik sucht ein Aushang „Paten/Innen für benachteiligte Kinder“, ein anderer „Teamende für Workshops mit Jugendlichen“. Die Workshops sind alle auf eine Frage ausgerichtet: „Wie wollen wir leben?“

    Hier auf dem Gang, im orangefarbenen Bereich, hat Prof. Klaus Zierer sein Büro, Ordinarius für Schulpädagogik in Augsburg. Einer, der versucht, die alltägliche Wirklichkeit an Schulen mit dem Ideal zusammenzuführen. Leicht ist das nicht. „Wir brauchen Lehrkräfte mit Haltung“, sagt Zierer, „politisch denkende Lehrkräfte.“ Gleichzeitig erlebt er jedes Jahr aufs Neue, wie kaum einer aus mehreren hundert Erstsemester-Studierenden in seiner Einführungsvorlesung die Hand hebt auf die Frage hin, ob er oder sie sich gesellschaftlich engagiere. Wer regelmäßig Tageszeitung lese – da sind es noch weniger.

    Univ.-Prof. Dr. Klaus Zierer ist
Ordinarius für Schulpädagogik in Augsburg.
    Univ.-Prof. Dr. Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik in Augsburg. Foto: Klaus Zierer

    Sieben bis neun Semester, je nach Lehramts-Studiengang, bleiben den Universitäten und weitere zwei Jahre den Seminarlehrkräften an den Schulen, um aus diesen jungen Menschen Vorbilder zu machen, die Kindern und Jugendlichen helfen, die Gegenwart zu verstehen und sie zu selbst denkenden Menschen zu machen. An der Universität Augsburg haben sie deshalb das Zertifikat Wertebildung eingeführt, das die Nachwuchs-Lehrkräfte erwerben können: Ringvorlesungen, Seminare und Projektarbeiten mit drei wählbaren Schwerpunkten: Nachhaltigkeit, Demokratie- oder Medienbildung.

    Zwar habe das Bildungssystem nach dem „Pisa-Schock“ 2001 leistungstechnisch aufgeholt, aber zu einem hohen und nicht nachhaltigen Preis, sagt Zierer. Denn: „Alles ist auf die dort gemessenen Bereiche ausgerichtet worden: mathematische, naturwissenschaftliche und sprachliche Kompetenzen. Alles andere war weniger wichtig.“ Nicht nur, dass die Ergebnisse seit etwa 2015 wieder zurückgehen: Bildung sei mehr als das, was

    Je höher das Bildungsniveau einer Gesellschaft, das ist statistisch bewiesen, desto besser die Wirtschaftskraft – und desto besser funktioniert die Demokratie. „Bildung fördert zum Beispiel ehrenamtliches Engagement“, weiß Zierer, „die Wahlbeteiligung, das Mitwirken in Parteien. Demokratiebildung muss an unseren Schulen ins Zentrum rücken.“

    Zierer fordert dafür eine Lehrplanreform, noch mehr Spielräume als im derzeitigen Lehrplan Plus. Altes raus, Aktuelles rein. Obwohl er einer der renommiertesten Pädagogikexperten Deutschlands ist, verhallt Zierers Forderung bislang politisch weitgehend ungehört. „Das müsste die Bildungspolitik in die Hand nehmen, mit allen Beteiligten reden, auch mit den Schülerinnen und Schülern.“

    Aus Sicht vieler Jugendlicher ist Schule bislang ziemlich lebensfremd

    Tun wir das doch. Wenn Kinder und Jugendliche entscheiden könnten, die Gesellschaft von morgen und die Schule in ihr, sie würde ziemlich anders aussehen. Erst im Jahr 2021 hatte die gemeinnützige Stiftung Denkwerkstatt rund 500 Menschen aus allen Altersklassen gebeten, Vorschläge zum Umbau des deutschen Bildungssystems einzureichen. Bei den Erwachsenen: Vereinheitlichung der Schulsysteme, mehr Vergleichbarkeit bei den Abschlussprüfungen, individuelle Förderung … – das Übliche.

    Interessanter die Ideen der Schülerinnen und Schüler, vom Wünsche-Klassiker „länger ausschlafen“ mal abgesehen: mehr Chill- und Lernräume zum gemeinsam Hausaufgaben machen (Grüße an Diedorf!) – das nämlich könnten Kinder nicht in allen Familien ungestört tun. Und ein neues Schulfach „Lernen fürs Leben“ ab der achten Klasse. Auf dem Lehrplan: Steuern, Miete, Buchhaltung oder Kochen. Schule nämlich, fanden die jungen Botschafterinnen und Botschafter damals, sei bislang „ziemlich lebensfremd“ organisiert.

    Emilia und Lara, 16 und 14 Jahre alt, sehen das genauso. Die Freundinnen aus dem Kreis Landsberg haben zusammen schon Erfahrung mit mehreren Schularten. Emilia war lange auf dem Gymnasium, wechselt jetzt und macht den Realschulabschluss. Lara besucht den M-Zweig einer Mittelschule. Gewappnet für ihre Zukunft in einer sich schnell drehenden Welt fühlen sie sich nicht. „Ich finde extrem schlimm am Gymnasium, dass das so, so viel Theorie ist“, klagt Emilia. „Chemie, Physik, da sind wir top vorbereitet. Aber auf mein Leben vorbereitet? Alleine zu leben? Null.“

    Das fängt bei Profanem an. „Ich fände total wichtig zu wissen: Wie kocht man, wie macht man eine Steuererklärung? Ich hab keine Ahnung, wie das geht.“ Und es endet beim Aushandeln brüchiger Gewissheiten: „Als ich noch auf dem Gymnasium war, haben wir schon mal ein bisschen über den Krieg gesprochen, und in Geografie über den Klimawandel. Aber zum Beispiel über LGBTQ? Komplett gar nicht.“ Natürlich werde das Thema Sexualkunde angeschnitten – „aber ich fände es wichtig darüber zu reden, dass es nicht nur heterosexuelle Menschen, nicht nur Mann und Frau gibt – und wie man dann zum Beispiel verhütet, wenn man nicht in diese Kategorien fällt“. Die woke Identitätsdebatte, sie schwappt aus den Metropolen und Universitäten aufs bayerische Land – in die Schulen aber demnach nicht.

    Krieg in der Ukraine raubt vielen jungen Menschen das Sicherheitsgefühl

    Krieg und Klimawandel, das sind tatsächlich die Probleme, die junge Menschen in Deutschland gerade am meisten beunruhigen. „Jugend im Dauerkrisenmodus“ hat der Kemptener Jugendforscher Simon Schnetzer im Sommer eine große Studie zum Thema überschrieben. Der Krieg in der Ukraine war damals die größte Sorge der Befragten zwischen 14 und 29, 68 Prozent sehen dadurch ihre Zukunftsaussichten gefährdet und ihr Sicherheitsgefühl zerstört.

    „Wir haben über den Krieg kaum was gemacht, zum Klimawandel haben wir uns vielleicht eine Stunde genommen“, berichtet Lara aus der Mittelschule. „Da sind so viele Themen, die sehr wenig oder gar nicht angesprochen werden, aber für die Zukunft sehr, sehr wichtig sind.“ Beide sind sich sicher: Ein von Schülerinnen und Schülern geschriebener Lehrplan sähe ganz anders aus. Theorie raus, Lebenspraxis rein, mit allen Sorgen, Nöten, ungeklärten Fragen.

    Zurück nach Diedorf, an die Schule, die das in Raum und Tat versucht. Günter Manhardt ist seit 1994 Lehrer, seit 2012 Schulleiter. Wohl noch nie in seiner Laufbahn war die Welt so volatil wie jetzt. Auf dem Flur zu den Naturwissenschaftsräumen klebt in Schwarz-Weiß meterhoch das Wort „Why“ an der Wand: Warum. Die Buchstaben sind zusammengesetzt aus Bildern von Krieg und Hunger.

    Schulleiter sagt: "Natürlich muss man mit Schülern über den Krieg sprechen."

    Die Grenzen auf der Landkarte, die an vielen Schulen heute nicht mehr vergilbt an der Wand hängt, sondern aufs Whiteboard projiziert wird, drohen sich zu verschieben. Deutschland könnte im Winter frieren. Die Geschlechter werden neu verhandelt. Eine größere Last auf seinen Lehrerschultern spürt Manhardt trotz all dem nicht. „Es ist die normale Lehrerverantwortung, Kinder auf die Welt vorzubereiten. Im Fach Wirtschaft und Recht erkläre ich die Marktpreisentwicklung jetzt am Beispiel Gas, nicht mehr am Beispiel Nachhilfestunden.“

    Schulleiter Günter Manhardt verabschiedete jüngst die Absolventen.
    Schulleiter Günter Manhardt verabschiedete jüngst die Absolventen. Foto: Andreas Lode

    Natürlich müsse man mit Schülern über den Krieg sprechen, so der Schulleiter. „Ich fürchte, der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine wird nicht der letzte sein, den wir erleben, und wir werden weiter von Pandemien betroffen sein.“ Aber zu einer zeitgemäßen Bildung gehört für ihn auch, dass Lehrkräfte sich auf ihre Arbeit als Wissensvermittler konzentrieren. „Schule muss gerade in einer fragilen Welt einen Schutzraum bieten. Wir müssen über den Krieg reden, aber die Schüler wollen das gar nicht in jedem Fach tun.“

    Und so, wie trotz aller Modernität in jedem Diedorfer Klassenzimmer ein Geodreieck, ein Zirkel und ein Lineal an der Wand hängen, das Kreuz über der Tür nicht fehlen darf, genauso müsse die Schule Kindern für ihr zukünftiges Leben weiterhin schlicht den nötigen Stoff vermitteln. Manhardt sagt: „Was ein Drittel plus ein Viertel ist, das sollte man auch in Zukunft wissen.“

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