Eine Stunde ist im Leben im Grunde so gut wie nichts, nicht mal Spielfilmlänge, flutscht einem im Alltag einfach so weg. Außer sie zählt zu den besonderen, denen, die man für immer in Erinnerung behält. Für eine solche Stunde reisen sie hier an. Fliegen von sonst noch wo in der Welt erst nach Entebbe, zum Hauptstadt-Flughafen von Uganda, brettern dann in Jeeps über staubige Pisten ein paar Stunden entlang von Tee- und Bananenplantagen, durch Straßendörfer hindurch, ins Rukiga-Hochland im Süden, wo die Grenze zur Demokratischen Republik Kongo und Ruanda verläuft. Das Ziel ist der Bwindi Impenetrable National Park. Ein Urwald, der mit vielen kleinen Bächen und dichtem Unterholz, mit Dornen, Ranken, Lianen und mannshohen Farnen hält, was sein Name verspricht. Manchmal ist er wirklich undurchdringlich, außer man hat eine Machete. Aber all das wissen die Touristen vermutlich schon, wenn sie buchen. Sonst hätten sie ja auch nicht die empfohlenen Handschuhe im Gepäck. Und die wasserdichten Stiefel.
Die Suche nach Gorillas führt auf schmalen Pfaden ins Dickicht
Die Stöcke bekommen sie dann am nächsten Morgen im Besucherzentrum. Lange Holzstäbe, manche verziert am Kopf mit einem Affen. Damit stapfen sie in kleinen Gruppen los, hinauf in den Urwald, auf immer schmaleren Pfaden hinein ins Dickicht. Nicht selten regnet es, vor allem in den Morgenstunden. Dann hängt der Nebel so zäh am dichtbewaldeten Berg wie im Spätsommer über deutschen Auen. Aber selbst an kühlen Tagen kommen irgendwann fast alle ins Schwitzen. Wenn einen der Touristen die Kräfte verlassen, werden über Walkie-Talkie zwölf junge Männer mit der Sänfte hinauf beordert, immer vier tragen eine Weile, dann wird abgewechselt. Es kostet extra. Die jungen Männer aus dem Dorf stehen jeden Tag unten am Berg bereit und hoffen.
Wann die Stunde beginnt, deretwegen sie die Reise buchen, wissen die Touristen nicht. Vielleicht müssen sie erst einmal drei vier Stunden laufen, vielleicht auch nur eine halbe. Das Ziel ist beweglich. Sobald der Ranger den ersten Berggorilla sichtet, läuft die Zeit. Es bleiben dann exakt 60 Minuten zum Schauen, Staunen, Fotografieren, in denen man auf dem Waldboden sitzt oder steht, manchmal auch einen Schritt zurückweichen muss, wenn eines der Berggorilla-Kinder Bekanntschaft schließen möchte und die imaginäre Sieben-Meter-Abstandslinie, die die Besucher einhalten müssen, überschreitet. Und dann, wie Kinder so sind, gleich auch das Interesse verliert und hinterm nächsten Baum mit den anderen Halbwüchsigen Verstecken spielt, noch schnell einen Zweig vors Gesicht schiebt – als sei man hier nicht mitten im Urwald, sondern auf dem Kinderspielplatz in Irgendwo gelandet. Und ein paar Meter weiter döst der Vater in der Sonne! Es ist zum Weinen schön. Wenn die Touristen unten wieder ankommen, dann schreiben sie ins Gästebuch vor allem ein Wort: unvergesslich! Unforgettable. Einen der handgeschnitzten Gorillas, die es in allen Größen und an allen Ständen im Dorf zu kaufen gibt, nehmen die meisten aber doch als Erinnerung mit. Das alles als Vorrede für eine Geschichte, die zu der seltenen Spezies gehört, in denen auch das Tier zu den Gewinnern gehört, nicht nur der Mensch.
Auf der Welt gibt es etwas mehr als 1000 Berggorillas
Etwas mehr als 1000 Berggorillas gibt es auf der Welt. Keinen einzigen im Zoo. Selbst der schönste und größte Zoo kann nicht so tun, als sei er ein Stück des auf zwei- bis viertausend Meter hoch gelegenen Bwindi Parks und zum Beispiel exakt den Mix aus 25 Kilo Blättern und Früchten bereithalten, den sie täglich benötigen. Wer einen Berggorilla sehen möchte, muss also genau in diese Ecke Ostafrikas zu den nebelverhangenen grünen Bergen fahren. In den Bwindi Park in Uganda, 331 Quadratkilometer groß und Unesco-Weltnaturerbe, wo etwa 400 der seltenen Tiere leben. Oder zu den Virunga-Bergen, die sich Uganda, Ruanda und der Kongo teilen, wo in den Nationalparks dort die andere, etwas größere Hälfte der Population ungeachtet von Landesgrenzen ihre Heimat hat. Mit den Virunga-Gorillas haben die Bwindi-Gorillas, obwohl die Gebiete nur etwa 25 Kilometer voneinander entfernt sind, nichts mehr zu tun. Sie haben sich gegenseitig vergessen. An die Menschen dagegen haben sie sich gewöhnt, besser gesagt, sind sie gewöhnt worden.
Etwa die Hälfte der Berggorillas in Bwindi sind habituiert, dulden also die Wissenschaftler und Touristen in ihrer Nähe, ohne sich weiter stören zu lassen. Es ist ein behutsamer Prozess über zwei Jahre, bis die friedliebenden Tiere nicht mehr die Flucht ergreifen oder aber versuchen, die ungebetenen Gäste zu vertreiben. Mehrere Stunden am Tag verbringen Ranger mit dem jeweiligen Familienverband, verhalten sich ähnlich wie einst Dian Fossey: Machen selbst einen auf Gorilla.
Kaum einer kam den Berggorillas so nah wie Dian Fossey
Viel Unterschied ist im Grunde nicht, nur zwei Prozent des Genmaterials, der Rest ist identisch. Im Film „Gorillas im Nebel“ aus dem Jahr 1988 kann man sehen, wie es Fossey, dargestellt von Sigourney Weaver, wohl so in etwa machte: Blätter kauen, sich am Kopf kratzen, rumlümmeln. Die Verhaltensforscherin war die Erste, die jemals eine solche Nähe zu den Tieren aufbaute, die Berggorillas überließen ihr schließlich auch die Kinder zum Hüten. Mit den Menschen tat sich Fossey schwerer: Sie galt den Einheimischen gegenüber als herablassend, ging gegen die Viehzüchter vor, deren Rinder sich durchs Gorilla-Territorium fraßen, und kämpfte gegen Wilderer mit teils rabiaten Methoden. 1985 wurde sie in ihrem Haus in ihrer Forschungsstation auf der ruandischen Seite der Virunga-Vulkane mit einer Machete ermordet, wohl ein Racheakt.
Fossey und die Berggorillas, wenn die Touristen nach Uganda reisen, haben sie vermutlich alle die Liebesgeschichte im Sinn. Ohne die Amerikanerin, die von den Einheimischen „Nyiramacibili“, die „Frau, die alleine in den Wäldern lebt“ genannt wurde, gäbe es die letzten Berggorilla-Refugien wohl auch nicht mehr. Die Tiere wären verschwunden, bevor die Welt sie entdeckt hätte. Nun sind es die Touristen aus aller Welt, die ihnen das Überleben sichern. Für das Land sind die Gorillas so etwas wie ihr touristisches Aushängeschild und wichtigster Devisenbringer. Löwen, Elefanten, Zebras, Wasserbüffel, Nilpferde … das übliche Wildtier-Sightseeing-Programm gibt es auch hier, die Berggorillas aber eben nur auf diesem kleinen Stück Afrikas.
Der Bwindi-Nationalpark fördert nicht nur den Artenschutz
Wenn sie wollten, dann könnten sie im Bwindi-Nationalpark leicht doppelt so viele Besucher hinauf zu den Gorillas schicken, aber die Zahl der Genehmigungen ist beschränkt. 26575 waren es im vergangenen Jahr, für ausländische Besucher kostet die Erlaubnis 600 Dollar. Die Einheimischen müssen 250 zahlen, immer noch eine riesige Summe, viele haben noch nie einen Gorilla gesehen. Aber vom Geld, das sie hier mit dem Besuch bei den seltenen Tieren verdienen, profitieren alle. Mit 80 Prozent der Einnahmen wird die Unterhaltung des Nationalparks finanziert, etwa 20 Prozent fließen in Projekte für die Einheimischen. „Es ist der Schlüssel, um die Natur zu erhalten und die Gorillas zu schützen“, erklärt einer der Manager des Parks: „Wir arbeiten Hand in Hand. Denn ohne das Geld wäre hier bald alles zerstört.“
Als sie vor knapp dreißig Jahren den Nationalpark gründeten, mussten die Menschen an den Rand weichen. Wäre das Geld nicht, wäre es andersherum: Plantagen statt Urwald, Rinder statt Gorillas, Jäger und Wilderer statt Rangern. So aber ist die Geschichte, die sie nun hier den Touristen erzählen können, eine, in der sie auch Zahlen wie diese präsentieren können: Laut Weltnaturschutzorganisation ist die Zahl der Berggorillas um fast 50 Prozent gestiegen, was ihnen einen neuen Status verschafft hat – sie gelten nicht mehr als vom Aussterben bedroht, sondern „nur“ noch als stark gefährdet. Wobei wie alle schönen Geschichten auch die einen kleinen Haken hat. Zwar kann den habituierten Tieren, wenn sie beispielsweise in eine der Fallen der Jäger geraten, durch die Veterinäre schnell geholfen werden. Weil sie sich an die Menschen gewöhnt haben, können sie jedoch zur leichteren Beute für die Wilderer werden. Sich vom Menschen irgendwelchen Unsinn abschauen. Und sich außerdem anstecken, an Krankheiten der Touristen – deswegen der Sicherheitsabstand. Wer Schnupfen hat, darf gar nicht hinauf. Wer aber keinen hat …
Die Chance, Gorillas zu sehen, liegt bei fast hundert Prozent
Eine Stunde also. Goreth Niyibizi heißt die Rangerin, die an diesem Tag eine der Menschengruppen zu eine der Affengruppen führt. Die Gorillas an der Zahl leicht unterlegen: Zwölf Affen, acht Touristen, außerdem Goreth mit ihrer Machete, zwei Männer mit Gewehr, abgestellt zur Sicherheit, drei Porter, die die Rucksäcke tragen. Und den Touristen auch mal über den Bachlauf helfen. Nur einmal am Tag bekommt die Katwe-Gruppe Besuch so wie alle anderen habituierten Familien. Auch das ist streng geregelt. Schon zwei Stunden vor den Touristen sind die Spurensucher losgezogen, um nach Nestern und anderen Hinterlassenschaften zu suchen. Die Garantie, einen Gorilla zu sehen, liegt bei fast hundert Prozent!
Goreth, 32, macht schon den Weg zum Ziel. Sie hat Wildlife-Management studiert, nun präsentiert sie ihr sattes Wissen: Bitte hier mal auf diese Pflanze schauen, das ist die Brillantasia owariensis, sie versorgt die Berggorillas mit Wasser. Sie fressen die Blätter, die Stängel schälen sie vor dem Genuss. Ooh, aha, Kameras werden gezückt, und weiter. Und diese hier, Nasen runter, riecht nach Tabak. Dann ein kleiner Exkurs über die Waldelefanten … Der unergründliche Bwindi Park, er wäre auch ohne die Gorilla-Tour einen Besuch wert.
Aber der Tourist will die Gorillas. Nach eineinhalb Stunden zeigt sich der erste. Die Uhr läuft. Dann ist plötzlich die ganze Familie versammelt, frisst, döst, balgt und turnt herum. Was erzählen davon? Dass alle ganz still werden? Dass man hin- und hergerissen ist, Fotografieren, um sich genau zu erinnern, oder doch nur Schauen, um alles genau zu erleben: Wie der jüngste der Gruppe, ein zweijähriger Quatschkopf, den Baum rauf und runter flitzt, und als er einen der höher gelegenen Äste nicht erreichen kann, ihm eine der Halbwüchsigen den Ast so hinbiegt, dass er ihn greifen kann? Wie sein übermütiger Kollege sich eine Ohrfeige von der Mutter einholt, sich dann aber zum Ausruhen auf den Rücken setzen darf. Dass Mahane, ein Riesentyp, der Silberrücken der Gruppe, einen mit seinem Chefblick nur kurz und auch ziemlich gelangweilt streift? Dass, dass, dass…? Über eine Stunde im Bwindi Park kann man einen Tag lang erzählen. Nach genau einer Stunde dann aber beginnt im Urwald der Aufbruch. Nicht die Menschen gehen, sondern die Berggorillas. Als hätten sie auf die Uhr gesehen.