Sein erster Beitrag, das war 2004, erinnert sich Henning Schlottmann. Ein kurzer Satz über eine Kirche im Landkreis Fürstenfeldbruck. Besonders auffällige Fresken habe sie, schrieb der gelernte Jurist damals, einfach so, ohne Belege, ohne Literaturangaben. Heute undenkbar. 2004, fügt der 48-Jährige hinzu, das sei ein ganz typisches Einstiegsjahr für viele Wikipedianer gewesen. Damals begannen immer mehr Medien über die freie Online-Enzyklopädie zu berichten, ihre Einträge tauchten häufiger bei Suchanfragen im Internet auf. So wie er hätten sich viele Menschen gewundert: „Was ist das eigentlich?“
15 Jahre später zählt Wikipedia zu den meistbesuchten Internetseiten überhaupt. Allein die deutschsprachige Version wird täglich etwa 30 Millionen Mal aufgerufen, weltweit ist sie die viertgrößte. Kein Wunder, dass die Ratlosigkeit groß war, als das Lexikon diese Woche einen ganzen Tag offline ging. Aus Protest gegen Teile der geplanten EU-Urheberrechtsreform.
Praktisch jeder braucht und gebraucht Wikipedia
Wonach die Menschen Wikipedia fragen? Nach praktisch allem: berühmten Personen, Begriffen aus der Wissenschaft, all die Dinge, die uns zwar ständig im Alltag begegnen, über die wir aber trotzdem kaum etwas wissen … Die populärsten drei Beiträge der deutschsprachigen Ausgabe zuletzt: „Anthocyane“ (also wasserlösliche Pflanzenfarbstoffe), „Karl Lagerfeld“ und „Formelsammlung Trigonometrie“.
Das ist die Spitze. Aber vor allem in der Breite gebraucht und braucht diesen ständig abrufbaren Wissensspeicher praktisch jeder. Auffüllen aber wollen ihn offenbar immer weniger. Ein Dilemma, das weit über Wikipedia hinausgeht, weil sich darin ein wesentliches Problem unserer Gesellschaft zeigt …
Doch zuerst zum Online-Lexikon. Dem es an Autoren mangelt, und zwar gehörig. Schreiber, die es mit Wissen füllen, es aber ebenso ergänzen, aktualisieren und verbessern. Artikel bleiben veraltet, zurzeit sind es laut Wikipedia über 3600, und Leser unzufrieden zurück. 2009 hatte die deutschsprachige Version noch etwa 9000 aktive Autoren, also all jene Schreiber, die im Monat mindestens fünf Beiträge verzeichnen können. Heute gibt es davon nur noch um die 5500.
Das rüttelt an den Grundfesten der Wikipedia. Ist es doch genau das, was sie ausmacht: Eine kostenlose Enzyklopädie, ohne professionelle Redaktion, dafür aber mit tausenden Ehrenamtlichen, die sie mit Informationen füttern. Jeder, dem eine Wissenslücke auffällt, kann sie stopfen, ob mit ein paar Sätzen oder einem ganz neuen Artikel.
Ein Konzept, an dessen Erfolg viele nicht glaubten, als es 2001 online ging. Wikipedia bewies das Gegenteil und hielt wissenschaftlichen Vergleichen mit etablierten Lexika wie dem Brockhaus stand, der mittlerweile eingestellt wurde; war in Sachen Aktualität sogar Vorreiter.
Und jetzt? „Gefühlt war Wikipedia schon immer in einer Krise“, sagt Schlottmann. Dass die Autorenzahl sinkt, sei ja auch nichts Neues, fügt Michael Schönitzer hinzu, 28, Student, erst Astrophysik, jetzt Informatik. Es stimmt schon, dass es heute schwieriger ist als noch vor ein paar Jahren, ein Thema zu finden, zu dem noch niemand etwas geschrieben hat. Immerhin zählt die deutschsprachige Ausgabe an die 2,3 Millionen Artikel. Doch die Lücken sind da, betont Schönitzer, und Schlottmann bekräftigt: „Wir haben ja noch nicht mal jede Millionenstadt in China.“
Die beiden sitzen an diesem Abend an einem großen Holztisch, in einem hellen, modern eingerichteten Raum mitten in München. Früher war es mal ein Architektenbüro, heute ist es ein Treffpunkt für Wikipedianer, WikiMuc. Nach und nach trudeln weitere Autoren ein, fast jeder bringt seinen Laptop mit. Quer über den Tisch wird debattiert, Bildschirme werden umgedreht, um Bilder zu analysieren, die Bedeutung von Schriftzeichen herauszufinden. Das Problem ist, sagt Schönitzer, wenn alte Schreiber gingen, müssten sich ebenso viele neue finden. „Aber dieses Gleichgewicht gibt es so nicht.“
Umgangston bei Wikipedia wird oft als ruppig und unfreundlich bezeichnet
Warum? Der Umgangston bei Wikipedia, sagt Michael Seemann, schrecke potenzielle Autoren ab, er wird als ruppig und unfreundlich bezeichnet. Sogar als toxisch. Der Kulturwissenschaftler sieht in dieser Krise „ein Sinnbild der Krise der digitalen Gesellschaft und damit der Gesellschaft im Ganzen“. Ist das Online-Lexikon doch das Vorzeigeprojekt einer positiven Version der digitalen Gesellschaft. In der Menschen zusammenarbeiten, anstatt zu konkurrieren. Das eigene Wissen belegen, gegenüber anderen verteidigen und so zu einem möglichst neutralen Standpunkt kommen. So funktioniere Wikipedia. Eigentlich.
Doch wie es scheint, nicht unsere Gesellschaft. Die Leute teilten ihr Wissen lieber in „Sozialen Netzwerken“, ohne sich rechtfertigen zu müssen. „Das ist einfacher und fühlt sich natürlicher an, als um jedes Komma zu ringen. Aber am Ende von Social Media steht eben kein gemeinsames Etwas, sondern einander verfeindete Stämme“, sagt der Experte für Internetkultur.
Genauso wie für Neulinge gilt für anonyme, unangemeldete Autoren: Ihre Beiträge gehen erst online, nachdem sie erfahrene Schreiber geprüft haben. Damit kein Unsinn in die Wikipedia gelangt, Unternehmen nicht einfach ihr Image aufhübschen, Politiker nicht Wahlkampf betreiben. Außerdem fragen diese „Sichter“ charakteristische Teile des Artikels bei Google ab, um herauszufinden, ob es den Text bereits im Internet gibt, versuchen so Plagiate zu verhindern, den Diebstahl geistigen Eigentums.
Einen Artikel für Wikipedia zu schreiben kann Monate dauern
Monatelang habe er an dem Artikel über „Poverty Point“, eine amerikanische Ausgrabungsstätte, gearbeitet, erzählt Schlottmann. Literatur beschafft, ausführlich recherchiert und die ganzen Details in einen Lexikonartikel verpackt, versehen mit zahlreichen Nachweisen. Werden Texte von neuen Autoren abgewiesen, hapere es oft auch an der Darstellungsform. Wissenschaftler schrieben beispielsweise gerne Essays. „Wo sie dann fröhlich darauf los spekulieren, wie sich die Psychologie oder Philosophie in den nächsten 50 Jahren weiterentwickelt.“ Das sei ja nicht verkehrt, passe aber nicht zu Wikipedia.
Andere häufige Mankos: falsche Aussagen oder Artikel über Personen, die für die Online-Enzyklopädie irrelevant sind. Der Bäcker um die Ecke, der Motivationscoach oder das angehende Youtube-Sternchen, nennt der 48-Jährige einige Beispiele. Und ja, es gebe noch immer „massenhaft Leute, die über sich selbst schreiben“. Strenge Regeln, die aber auch Seemann nicht als das eigentliche Problem sieht. Sondern: „Viele berichten übereinstimmend, dass Editierungen von Neulingen pauschal weggelöscht werden, ohne jeden Verweis auf Regeln. Das ist viel frustrierender.“
Vielleicht habe die Community bisher zu wenig gemacht, um Leuten entgegenzutreten, die Neulinge abschrecken, sagt Michael Schönitzer. Die meisten schreiben halt doch noch für sich allein, zu Hause vor ihrem Computer, und einige davon haben halt einfach gerne recht. Und vielleicht ist der harsche Umgangston auch daran schuld, dass so wenig Frauen mitmachen, schätzungsweise gerade einmal 15 Prozent. „Dadurch kommen viele Themen, Sichtweisen und Interessen zu kurz“, bedauert Schlottmann.
Was das Prinzip Wikipedia ausmacht? Begeistert beginnt er, von einem Artikel über den deutschen Friedhof im Vatikan zu erzählen, auf den er gestoßen war. Zufällig hatte er einen passenden Kunstführer im Regal, er schrieb sein Wissen dazu und bat einen Freund, beim Urlaub dort Fotos zu machen. Bald darauf habe ein anderer Autor den Eintrag weiter bearbeitet, verbessert – und viel später kam noch ein Theologiestudent hinzu. „Man kann etwas beitragen, auch wenn es nicht viel ist. Und jemand anderen damit motivieren, seinen Beitrag zu leisten. So wächst das Projekt.“
Jeder hat die Möglichkeit, etwas im Online-Lexikon zu ändern
Doch bleibt das Problem: Wie lassen sich neue Autoren gewinnen? Auf jeden Fall nicht, indem man sie bezahlt, da sind sich die Münchner einig. „An dem Tag, an dem jemand für das Schreiben Geld bekommt, bin ich weg“, sagt Schlottmann. Er wolle nicht mit einem bezahlten Autor konkurrieren, weiterhin seine Freiheiten als Ehrenämtler behalten. Was er und Schönitzer dagegen begrüßen: Geld für Bücher oder andere Materialien für Artikel.
Geld ist also nicht die Lösung, was dann? Die Münchner probieren es mit Workshops, Einsteigerprogrammen, erfahrene Autoren wie Schönitzer und Schlottmann übernehmen eine Mentoren-Rolle. Falk aus München hat das überzeugt, er bereitet gerade seinen ersten Artikel vor, über ein kleines Land, das bei Wikipedia noch nicht auftaucht. Wie dort möchte er auch hier weitgehend anonym bleiben, daher nennt er nur seinen Vornamen. Woher er seine Quellen bekommt, wie das mit dem Schreiben klappt, dabei hilft ihm Schlottmann. „Die Atmosphäre ist sehr harmonisch, offen, hilfsbereit“, sagt der 40-jährige Neueinsteiger. Nicht ruppig, nicht abweisend, nicht besserwisserisch.
Da ist sie, die positive digitale Gesellschaft, die sich Seemann wünscht. Und die er offensiver vorantreiben will. „Wir müssen verstehen, dass wir die Gesellschaft verlieren, wenn wir untätig bleiben, beziehungsweise uns nur auf Twitter und Facebook bekriegen.“ Wenn Schlottmann darauf angesprochen wird, dass ein Artikel veraltet ist, dort steht, das Projekt soll 2018 abgeschlossen sein, obwohl wir doch schon 2019 haben, denkt er sich: „Dann ändere es doch.“ Es habe ja jeder die Möglichkeit, etwas zu editieren. „Wir helfen auch gerne dabei“, fügt er lächelnd hinzu.
Lässt sich die Krise bei Wikipedia überwinden, ist Seemanns Hoffnung groß, dass sein Traum von einer positiven digitalen Gesellschaft doch noch zur Wirklichkeit wird. „Kriegen wir es da hin, bekommen wir es überall hin.“