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Medizin: Was wir bis heute über den Corona-Verlauf wissen

Medizin

Was wir bis heute über den Corona-Verlauf wissen

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    In Spanien ist die Lage in den Krankenhäusern schon wieder deutlich angespannter.
    In Spanien ist die Lage in den Krankenhäusern schon wieder deutlich angespannter. Foto: Emilio Morenatti

    Der medizinische Lernprozess zu Covid-19 lässt sich unter anderem an intensivmedizinischen Leitlinien erkennen. Erste Empfehlungen zur Therapie schwerkranker

    Die Aktualisierungen spiegeln den medizinischen Erkenntnisgewinn wider. Das Bild von der Erkrankung hat sich seit Ankunft des Erregers Sars-CoV-2 in Deutschland im Januar deutlich verändert. „Wir wussten anfangs nur, dass das Virus Lungenerkrankungen mit dramatischen Verläufen verursachen kann“, sagt Janssens, der am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler nach dem Karneval Covid-19-Patienten aus dem benachbarten Kreis Heinsberg behandelte. „Seitdem haben wir enorm viel gelernt.“

    "Covid-19 ist eine vielschichtige Erkrankung"

    Inzwischen weiß man: Covid-19 betrifft längst nicht nur Lunge und Atemwege. „Man hat schnell an den Verläufen gemerkt, dass die Patienten verschiedenste Symptome hatten“, sagt Julian Schulze zur Wiesch, Infektiologe am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). „Covid-19 ist eine vielschichtige Erkrankung.“

    Clemens Wendtner, der in München die ersten Patienten in Deutschland behandelt hat, vergleicht das Wissen über die Krankheit mit der Spitze eines Eisbergs. „Das Ausmaß der Erkrankung wird erst schrittweise deutlich“, sagt der Chefarzt der Klinik für Infektiologie in der

    Anfang April veröffentlichte ein Team um Wendtner und den Berliner Virologen Christian Drosten in der Zeitschrift Nature Daten zu Patienten, die ab Ende Januar in München behandelt wurden. Auffällig war die Viruslast, die im Rachenabstrich auf fast 10 hoch 9 Kopien pro Milliliter stieg – etwa 1000 Mal mehr als bei einer Influenza, wie Wendtner betont. „Da kommt viel Unheilvolles zusammen – eine Infektiosität vor Beginn der Symptome bei extrem hoher Viruslast.“

    Nahezu alle Organsysteme können betroffen sein

    Auf die Infektion reagieren Menschen jedoch sehr unterschiedlich. Die meisten Infizierten sind asymptomatisch oder haben lediglich milde, unspezifische Symptome. „Bei 81 Prozent der Patienten ist der Verlauf mild, bei 14 Prozent schwer und 5 Prozent der Patienten sind kritisch krank“, heißt es in der aktuellen Leitlinie. Bundesweit starb von jenen knapp 17 000 Covid-19-Kranken, die auf Intensivstationen lagen, laut DIVI-Intensivregister fast jeder vierte (24 Prozent).

    UKE-Mediziner haben Patienten der Uniklinik, die während der schweren Grippewelle 2017/2018 wegen Influenza behandelt wurden, mit Covid-19-Patienten verglichen. „Die Covid-Patienten waren bei der Aufnahme tendenziell jünger und wurden deutlich länger behandelt“, fasst Schulze zur Wiesch die Resultate zusammen. „Die Covid-Patienten hatten schwerere Verläufe und eine höhere Sterblichkeit.“

    Generell teilen Mediziner Covid-19 grob in zwei Phasen ein: die virale Phase, in der sich der Erreger in den Atemwegen vermehrt und die bis zu zehn Tage nach Symptombeginn dauert, und die inflammatorische Phase, gekennzeichnet durch Entzündungsprozesse, die weit über die Atemwege hinausreichen und nahezu alle Organsysteme betreffen können.

    Gefährlich ist vor allem diese zweite Phase, die aber längst nicht bei jedem Erkrankten eintritt. Viele Faktoren können auf einen schweren Verlauf hindeuten: geringe Sauerstoffsättigung im Blut, schnelle Atmung und insbesondere hohe Entzündungswerte, etwa beim C-reaktiven Protein (CRP). Im schlimmsten Fall droht Patienten ein Zytokinsturm – also eine ausufernde Reaktion des Immunsystems.

    Die Innenschicht der Blutgefäße kann beschädigt werden

    Doch auch ohne Zytokinsturm können die Entzündungen viele Organe in Mitleidenschaft ziehen, etwa Nieren, Leber, Verdauungstrakt, Herz und Gehirn. So können diese Prozesse das Endothel schädigen – jene Zellschicht, die die Innenseite der Blutgefäße auskleidet – und zu Blutpfropfen führen. Diese Thromben können in verengten Gefäßen die Blutversorgung blockieren und so Herzinfarkt, Schlaganfall oder Lungenembolie verursachen.

    Daher sind insbesondere Menschen mit Gefäßschädigungen gefährdet – etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck oder koronarer Herzerkrankung, aber auch Menschen mit vorgeschädigter Lunge, Niere und Leber. „Dieser Prozess kann jedes Organ schädigen, das über die Blutbahn versorgt wird“, sagt Wendtner.

    Blutverdünner senken die Sterberate deutlich

    Untersuchungen zeigen, dass die Gabe von Blutverdünnern wie etwa Heparin solche Probleme verhindern kann. So berichteten US-Mediziner nach einer Studie mit knapp 4400 Teilnehmern im Journal of the American College of Cardiology, dass Blutverdünner nicht nur die Sterberate deutlich senken, sondern auch das Risiko für eine künstliche Beatmung. Besonders wichtig: Thrombosen fanden die New Yorker Mediziner auch bei jenen Covid-19-Verstorbenen, bei denen es zuvor keine Hinweise auf ein besonderes Thromboserisiko gegeben hatte. Daher empfiehlt die Leitlinie bei Covid-19-Patienten auch die prophylaktische Gabe von Blutverdünnern.

    Welche Patienten besonders gefährdet sind, zeigt auch eine Studie von Christian Karagiannidis von der Lungenklinik Köln-Merheim und Kollegen im Fachblatt Lancet Respiratory Medicine. Das Team wertete Daten von gut 10 000 Patienten aus, die in deutschen Krankenhäusern behandelt wurden. Häufigste Begleiterkrankungen der schwer erkrankten Patienten waren Bluthochdruck, Diabetes, Herzrhythmusstörungen, Nieren- und Herzschwäche sowie chronische Lungenerkrankungen. Aber auch Leukämie-Patienten und Menschen, die etwa kurz nach einer Organtransplantation oder Chemotherapie immungeschwächt sind, seien gefährdet, ergänzt Schulze zur Wiesch. „Man muss bei jedem Patienten wachsam sein. Denn im Einzelnen wissen wir nicht genau, wer einen schweren Verlauf haben wird.“

    Um dies besser abschätzen zu können, haben britische Wissenschaftler im British Medical Journal aus Daten von mehr als 30 000 Covid-19-Patienten ein System zur Risikobewertung veröffentlicht, das das individuelle Sterberisiko kalkuliert. Der Wert ergibt sich unter anderem aus Alter, Geschlecht, Atemfrequenz, Zahl der Vorerkrankungen sowie Blut- und Harnwerten.

    Bewährt haben sich bisher zwei Präparate

    Seit Beginn der Pandemie läuft auch die Suche nach Medikamenten auf Hochtouren. „Bisher gab es mehr Enttäuschungen als Erfolge“, sagt Wendtner. Spektakulärstes Beispiel ist das von US-Präsident Trump angepriesene Hydroxychloroquin. Auch andere Arzneien scheiterten in Studien, darunter das HIV-Kombinationspräparat Kaletra (Lopinavir/Ritonavir) oder der Antikörper Tocilizumab, der den Zytokinsturm bei Covid-19 stoppen sollte. Bewährt haben sich bislang – neben Blutverdünnern – vor allem zwei Präparate: Das eigentlich gegen Ebola entwickelte Virostatikum Remdesivir soll die Vermehrung des Virus bremsen. Seine Gabe wird daher nur in der frühen, viralen Phase der Erkrankung empfohlen. Das Präparat hilft laut Wendtner etwa der Hälfte der Patienten und verkürzt die Dauer der stationären Behandlung im Krankenhaus.

    Spektakulärer sind für DIVI-Präsident Janssens die Daten zum Kortisonpräparat Dexamethason, das den Zytokinsturm bremsen soll. In der britischen Recovery-Studie erfassten Forscher die Todesfälle über einen Zeitraum von 28 Tagen nach Beginn der Dexamethason-Gabe. Demnach senkte diese Therapie im Vergleich zur üblichen Behandlung die Sterblichkeit bei Patienten mit künstlicher Beatmung um etwa 36 Prozent und bei Patienten, die zusätzlichen Sauerstoff benötigen, um fast 20 Prozent.

    Hydroxychloroquin hilft nicht

    Die Mitte Juli im New England Journal of Medicine publizierten Ergebnisse waren so eindeutig, dass andere Studien mit dem Präparat abgebrochen wurden. Es war ethisch nicht mehr vertretbar, den Teilnehmern in den jeweiligen Kontrollgruppen diese Therapie vorzuenthalten. Überhaupt zeigt die Recovery-Studie, wie wichtig sorgfältig geplante Untersuchungen sein können – insbesondere im Vergleich zur Flut kleiner Studien mit allenfalls geringer Aussagekraft. Das von der Universität Oxford geplante Projekt mit verschiedenen Studienarmen belegte nicht nur den Erfolg von Dexamethason, sondern ergab auch, dass Kaletra und Hydroxychloroquin nicht helfen.

    Derzeit ist hierzulande die Corona-Lage recht entspannt. Stand vergangenes Wochenende waren laut DIVI-Register bundesweit 227 Intensivpatienten gelistet. „Ich sehe deutlich weniger schwere Fälle als im April“, sagt Wendtner. Während damals 80 bis 100 Covid-19-Kranke in seiner Klinik versorgt wurden, liegen dort derzeit etwa 10 solche Patienten. Angesichts von seit Wochen deutlich über 1000 Neuinfektionen pro Tag scheint die Zahl gering. Schulze zur Wiesch erklärt die milderen Verläufe unter Verweis auf Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) damit, dass das Durchschnittsalter der nachweislich Infizierten von etwa 50 auf gut 30 Jahre gesunken ist. „Es scheint, dass viele Jüngere sich infiziert haben, die das zu Hause auskurieren“, vermutet auch Wendtner. „Und es scheint geglückt zu sein, die vulnerablen Gruppen besser zu schützen.“

    Dennoch bleiben viele Fragen zu Covid 19 offen

    Ob das auch für den Herbst gilt, bleibt abzuwarten. Grundsätzlich aber sieht Janssens das Gesundheitssystem gewappnet – nicht nur wegen der therapeutischen Fortschritte, sondern auch in Bezug auf Abläufe, Hygiene und Ausstattung: „Wir sind im Gegensatz zum Frühjahr gut vorbereitet, das Personal ist darauf eingestellt und wir gehen professioneller damit um.“

    Insgesamt geht Janssens davon aus, dass die Fallsterblichkeit, die laut RKI derzeit bei 3,7 Prozent der diagnostizierten Sars-CoV-2-Infektionen liegt, sinken wird. Wie hoch die Infektionssterblichkeit – also welcher Anteil von allen Infizierten stirbt – ist, bleibt dagegen angesichts der unbekannten Dunkelziffer unklar. Wendtner vermutet den Wert bei deutlich unter 1 Prozent.

    Doch noch bleiben viele Fragen zu Covid-19 offen – vor allem zu den Spätfolgen. „Wir wissen noch nicht, welche Langzeitschäden es gibt“, sagt Janssens. „Aber man muss davon ausgehen, dass Patienten nach einem schweren Verlauf noch lange Probleme haben.“ Aussagen dazu, so der Mediziner, seien naturgemäß frühestens nach sechs bis zwölf Monaten möglich.

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