Die Sonntage sind am schlimmsten. An denen sitzt Frau K. in ihrer Wohnung in Augsburg, durch ihre geöffneten Fenster sieht sie den Zügen zu, die jede halbe Stunde vorbeifahren. Alleine. Den ganzen Tag spricht sie mit keinem Menschen – obwohl ihr Sohn mit seiner Frau direkt nebenan wohnt. Doch Frau K. will niemandem zur Last fallen. Bald ist sie 90 Jahre alt. Und oft denkt sie, dass sie nicht noch ein weiteres Jahr leben will. Solche Gedanken kommen ihr, wenn sie einsam ist.
Einsamkeit, das ist ein Thema, das schon vor mehr als hundert Jahren Schriftsteller umgetrieben hat. Von der „Einsamkeit im Menschengewimmel“ schrieb Charles Baudelaire, bei Rainer Maria Rilke fällt die Einsamkeit wie Regen auf die Stadt. Einsamkeit war schon damals ein konkretes Problem – und ist es heute noch. Ähnlich wie Frau K. blicken zahllose Menschen einsam aus dem Fenster ihrer Wohnung. Die Seniorin hat es geschafft, sich Hilfe zu suchen, in einer Einrichtung für Senioren mit psychischen Problemen. Die Leiterin der Einrichtung „Pikasso.2“, Gabriele Eisinger, ist täglich mit einsamen Menschen beschäftigt. „Die Fälle nehmen merklich zu. Das Problem wird für die ganze Gesellschaft immer größer.“ Denn nicht nur alte Menschen sind einsam – immer mehr junge leiden darunter.
In England gibt es ein Ministerium für Einsamkeit
In England rief die Einsamkeit bereits die Politik auf den Plan. Ende Januar schuf die Regierung ein Ministerium für Einsamkeit, um „der zunehmenden Vereinsamung von wachsenden Teilen der Bevölkerung entgegenzuwirken“, wie Premierministerin Theresa May mitteilte. In Japan öffnet die grassierende Einsamkeit neue Märkte – nicht nur für klassische Begleitservices. Unternehmen setzen auf Technologien der Zukunft, die Firma Vinclu etwa bietet eine holografische Freundin an. Das mag albern klingen, doch in einem Land, in dem mehr als 40 Prozent der unter 34-Jährigen noch keinen Freund oder keine Freundin hatte, wird jede Umarmung zu einem Höhepunkt im Leben – kommt sie auch nicht von einem echten Menschen.
Doch was genau ist Einsamkeit? Der Begriff ist schwer zu umreißen. Wer alleine wohnt, kann einsam sein – aber er kann auch einen stabilen Freundeskreis haben. Wer in einer Ehe lebt, teilt sein komplettes Leben mit einer anderen Person. Doch auch Eheleute fühlen sich in manchen Fällen einsam. Einen Erklärungsversuch startete Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. In seinem neuesten Buch „Einsamkeit – eine unbekannte Krankheit“ siedelt er die Einsamkeit bei den Schmerzen an. Die moderne Gehirnforschung hat gezeigt, dass Einsamkeit eine Reaktion im Gehirn hervorruft. Und zwar in dem Bereich des Hirns, in dem das Schmerzzentrum angesiedelt ist. Einsamkeit schmerzt – buchstäblich. Spitzer zufolge ist sie nicht nur eine Beschwerde. „Wie würden Sie etwas nennen, das ansteckt, weh tut und tödlich enden kann? Ich nenne das eben Krankheit“, sagte er.
Einsamkeit ist eine eigene Krankheit
Ansteckt? Tödlich endet? Spitzer führt dafür verschiedene Argumente an. Untersuchungen hätten gezeigt, dass Mitmenschen auf soziale Isolation reagieren. Zieht sich ein Mensch aus seinem Freundeskreis zurück, folgen andere Freunde diesem Verhalten. Der Psychologe zieht dafür unter anderem das menschliche Einfühlungsvermögen zur Verantwortung: Wir spiegeln nicht nur das Verhalten, sondern auch die Gefühle unserer Mitmenschen. Eine tödliche Gefahr geht Spitzer zufolge davon aus, dass Einsamkeit massiven Stress auslöst – und dessen Auswirkungen sind inzwischen gut erforscht. Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Infektanfälligkeit, Depressionen … all diese Faktoren mindern nicht nur die Lebensqualität, sie verkürzen auch das Leben. Diese Beobachtung hat auch Ruth Belzner gemacht, die Bundesvorsitzende der „Konferenz Evangelische Telefonseelsorge“: „Durch Einsamkeit wächst die Gefahr, an Alzheimer, Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck oder gar Krebs zu erkranken.“ Auch Gabriele Eisinger von Pikasso.2 sieht die gesundheitlichen Auswirkungen: „Wenn ältere Menschen vereinsamen, bauen sie immer mehr ab. Kognitive Fähigkeiten gehen zurück, der Geist arbeitet nicht mehr so gut. Das ist oft der Anfang vom Ende.“
Immer mehr Menschen leben alleine
In der modernen Gesellschaft gibt es viele Faktoren, die in die Einsamkeit führen können. Das zeigen auch viele Zahlen. In Deutschland leben rund 40 Prozent aller Menschen alleine. Das betrifft nicht nur junge Menschen, sondern viele ältere: Jeder dritte, der alleine lebt, ist älter als 64 Jahre. Die klassische Großfamilie unter einem Dach, wie sie in den 50er Jahren noch die Regel war und wie sie von einigen zurückgesehnt wird, ist ein Auslaufmodell. Stattdessen dominieren kleine Wohnungen die Städte. Und in den Metropolen leben immer mehr Menschen. Weltweit hat jeder zweite eine Wohnung in der Stadt, im Jahr 1950 lag der Wert noch unter 30 Prozent. Der Trend geht also zu einer kleinen Wohnung in einer großen Stadt. Frau K. fällt genau in dieses Schema. Sie wohnt alleine, ihr Sohn hat mit seiner Frau eine eigene Wohnung. Zwar wohnen sie direkt nebeneinander, aber Kontakt haben sie kaum. Die Seniorin will sich nicht in das Leben des Ehepaares einmischen: „Sie sind eine eigene Familie. Ich habe das Gefühl, dass ich da nur im Weg bin.“
Doch die Wohnsituation allein macht einen Mensch noch nicht einsam. Auf der Suche nach einem Auslöser stürzt sich Manfred Spitzer in seinem Buch auf die sozialen Medien. Junge Menschen verbringen mehrere Stunden am Tag auf Facebook und Co., doch das gaukelt soziale Interaktion nur vor – so die These des Psychologen. Diese Meinung ist umstritten, denn verschiedene Studien belegen sowohl soziale Vor- als auch Nachteile dieser Medien. Alleine am Smartphone dürfte es also nicht liegen, dass Menschen in der Einsamkeit landen. Sonst hätten Baudelaire und Rilke bei diesem Thema kaum mitreden können.
Auch das Pendeln zur Arbeit macht einsam
In unserer Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur in der Kommunikation etwas getan. Für einen Großteil der Bevölkerung gehört es etwa zum Alltag, jeden Tag zur Arbeit zu pendeln. Und dieser Anteil der Gesellschaft wird immer größer. Jeden Morgen machen sich Millionen von Menschen auf den Weg in eine andere Stadt, verbringen oftmals eine Stunde in Zug, Bus oder Auto. Unser Leben konzentriert sich dadurch nicht mehr auf einen einzelnen Ort. Wir arbeiten nicht, wo wir schlafen; wir haben unsere Kollegen und Freunde nicht dort, wo unsere Familie lebt. Von einer „Zerstückelung“ des Lebensraums ist in diesem Zusammenhang die Rede. Spitzer sieht darin einen weiteren Faktor, der einsam macht: „Diese Fragmentierung führt zwangsläufig zu größerer sozialer Isolation, was vom Erleben von Einsamkeit begleitet sein kann.“
In der modernen Gesellschaft sind Menschen auch spät dran, wenn es um die Gründung einer eigenen Familie geht. Männer heiraten im Durchschnitt mit 34 Jahren, Frauen mit 31. Und auch erst in diesem Alter bringt eine Frau heute ihr erstes Kind zur Welt. Anfang der 90er Jahre waren Frauen im Schnitt mit 26 Jahren zum ersten Mal schwanger. Junge Menschen leben also länger als Singles oder kinderlose Paare. Gleichzeitig haben zwischenmenschliche Handlungen in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. Seelsorgerin Belzner sieht darin einen weiteren Auslöser für Einsamkeit: „Die Fahrkarten kaufen wir am Automaten, Kleidung kaufen wir im Internet …“ Durch moderne Technik fallen kleine, aber wichtige Handlungen weg.
So kann der Weg aus der Einsamkeit gelingen
Ohne regelmäßige soziale Kontakte wird der Mensch einsam. Allerdings nicht jeder. Manch einer ist sozial isoliert, ohne sich einsam zu fühlen. Einzelgänger hat es unter den Menschen schon immer gegeben. Mangelnde Sozialkontakte lösen in ihnen nicht das schmerzhafte Gefühl der Einsamkeit aus. Doch der Großteil der sozial Isolierten kommt diesem Schmerz nicht aus – und sucht einen Weg aus dem einsamen Leben.
Der Schlüssel dazu liegt, wie es kaum anders zu erwarten wäre, in der Geselligkeit. Doch einem sozial Isolierten fällt es meist schwer, Anschluss zu finden. Spitzer rät, kurze Gespräche mit anderen zu führen. Dazu reiche es bereits, jemanden nach der Uhrzeit zu fragen oder ein paar Worte mit dem Postboten zu wechseln. „Mögen die einzelnen Erlebnisse auch noch so bedeutungslos oder kurz sein, in ihrer Gesamtheit wirken sie sich aus, wie Soziologen herausgefunden haben“, sagt der Psychologe. Eine gute Anschlussmöglichkeit bieten auch Gruppen, in denen gemeinsam etwas unternommen wird. Das können etwa Sportvereine, Kirchengemeinden oder Reisegruppen sein. Eisinger zufolge bieten sich auch ehrenamtliche Tätigkeiten an: „Dabei ist man körperlich und geistig aktiv. Außerdem hat man ein gemeinsames Ziel, das schweißt eine Gruppe noch mehr zusammen.“
Für Senioren gibt es Hilfsprogramme, für junge Menschen nicht
Speziell für Senioren existieren bereits viele Hilfsprogramme, die Menschen aus der Einsamkeit helfen sollen. So gut wie jede Stadt und Gemeinde hat einen Seniorenbeauftragten, der alte Menschen an die passenden Angebote vermitteln kann. Das muss keine psychologische Betreuung sein – oftmals organisieren soziale Einrichtungen auch gemeinsame Aktivitäten und Ausflüge. „Einsame Senioren müssen sich nur die Hilfe suchen – wenn der erste Schritt gemacht ist, finden sie den Zugang zu den richtigen Angeboten“, sagt Eisinger.
Anders als bei älteren Menschen stehen jüngere Generationen allein mit ihrer Einsamkeit da. Für sie gibt es keine speziellen Hilfsangebote – das Problem ist weitgehend unbekannt. Andere Länder sind in diesem Punkt bereits weiter, wie das Beispiel England zeigt – dort hat die Einsamkeit eine politische Dimension angenommen. Seelsorgerin Belzner sieht auch in Deutschland die Politik in der Verantwortung. Familienpolitik, Arbeitsrecht oder die Gestaltung der Pflege hätten Auswirkungen darauf, ob Menschen ihr Leben gut gestalten können. Aber auch Städte und Gemeinden, Kirchen und Vereine fordert sie dazu auf, Lebensräume zu öffnen, wo Menschen sich begegnen und mitgestalten können. Doch hierzulande ist Einsamkeit nach wie vor Privatsache.