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Lebensgefühl: Das Straßenfest: Eine Vermessung der Nachbarschaft

Lebensgefühl

Das Straßenfest: Eine Vermessung der Nachbarschaft

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    Soziologie und Erfahrung sagen: Wer die Nachbarschaft kennt und gut ihr klar kommt, dem geht es besser.
    Soziologie und Erfahrung sagen: Wer die Nachbarschaft kennt und gut ihr klar kommt, dem geht es besser. Foto: AZ-Archiv, privat

    Ein Abend Ende Juli, lange Jahre her. Am frühen Nachmittag war der Umzugswagen in die neue Straße zum neuen Haus gefahren. Stunden später stapelten sich die Kisten, stand das Sofa quer im Raum, schön war es noch nicht. Da sind wir einfach gegangen, eine Flasche Wein in der Hand, ein paar Meter die Straße hinauf.

    Da saßen alle! Oder fast alle. Aber den Überblick hatten wir ja ohnehin noch nicht. „Ich wohne etwas weiter die Straße herunter …“ Aha. „Und wir direkt gegenüber.“ Zusammen mit uns noch weitere Neue, Unbekannten die Hände schüttelnd, freundliches, noch leicht distanziertes Lächeln.

    Was wir am Ende des Abends wussten: Dass schon mal ein Auto bei Glatteis in unsere Garage gerutscht ist, aber zum Glück: auch dem Garagentor nichts passiert! Dass im schönsten Garten der Nachbarschaft eine Blutbuche steht, in deren Stamm die Kinder der umliegenden Häuser ihre Namen eingeritzt haben, die Namen mit der Buche in die Höhe wachsen. Dass man hier gerne Pflanzenableger tauscht. Dass man bei gutem Wetter bis in die Alpen blicken kann, aber natürlich nicht von jedem Haus aus.

    Und auch, dass man einiges voneinander weiß. „Ich sehe Sie immer, wenn Sie im Schlafanzug am Küchenfenster stehen und den Kindern die Brote schmieren“, sagte der eine Nachbar zum anderen. Ganz froh schien der andere darüber nicht zu sein. Aber ach, alles ein paar Jahre her … Was wir am Ende des Abends aber ahnten: Glück gehabt mit der Nachbarschaft!

    Was sagt der Soziologe? Und was sagt die Erfahrung von Nachbarn?

    Ein Straßenfest also am Rande von Augsburg wie es viele in vielen Straßen gibt. Ein eher kleines, familiäres, sechs Biertische, zwei Grills, ein Carport, keine Hüpfburg. Nichts Besonderes also: An einem Sommerabend zusammensitzen mit den Nachbarinnen und Nachbarn, bisschen plaudern, lachen, grillen, essen, trinken. Dann wieder die paar Meter nach Hause gehen. Weiterleben Tür an Tür. Besonders schön aber ist dieses natürlich schon, wobei das vermutlich alle in allen Straßen von ihrem Fest sagen. Frei nach dem Anna-Karenina-Prinzip: Alle schönen

    Würde man alle Feste des Jahres nach der Wichtigkeit anordnen, stünde aber natürlich das Straßenfest nicht auf Platz eins. Sondern Feste mit Familie, mit den Liebsten, Weihnachten, vielleicht Geburtstag. Die Menschen, die neben einem wohnen, sind meist nicht Familie, man ist nicht unbedingt befreundet, zum Glück aber ja auch nicht unbedingt verfeindet. Kann natürlich beides passieren. Man sucht sie sich nicht aus, würde selbst vielleicht auch nicht ausgesucht werden. Das macht die Beziehung speziell, die Feste aber wiederum auch.

    Jetzt aber erst mal die Nachbarinnen erzählen lassen, Geschichten anhören. Zum Beispiel jene von vor dreißig Jahren, als in der eigenen schmalen Straße zum ersten Mal zusammen gefeiert wurde. Weil Annegret Lamey die Idee dazu hatte, gerne wissen wollte, wer in all den Häusern wohnt, weil Marei Kemmerling die Idee gut fand. Und noch einige Nachbarn mit ihr, die meisten wie auch Lamey und Kemmerling erst vor kurzem eingezogen. Die Neuen also damals. Die auch einen Carport gebaut hatten, ideal fürs Fest. Die Lichterkette, die sie damals gekauft haben, hängt dort noch. Funktioniert auch noch.

    Nachbarschaft: Ein Du-Sie-Verhältnis

    „Schau mal, du mit Cornelia auf dem Schoß“, sagt Marei Kemmerling. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Fotoalbum, hellblauer Einband, schon ein bisschen verblichen. Drei Bilder sind vom damaligen Fest geblieben. Eines zeigt die lachende Annegret Lamey, das gleiche kurze Haar, braun noch nicht grau, vor sich ein Baby, Mareis Baby. Auf einem anderen sieht man drei Erwachsene und zwei Kinder auf der mit Kreide vollbemalten Straße. Unklar nach all den Jahren, welche Kinder das sind. Kathrin? Lisa? Nein, kann doch nicht sein … Oder doch? Das dritte Foto zeigt vier lachende Männer neben einem Fass, aus dem wild das Bier schäumt. „Das war die Taufe“, sagt Annegret Lamey: „Alle wurde nass gespritzt.“ Danach, sagt Marei Kemmerling, „war die Stimmung schon mal gelockert“. Fotografiert hat dann auch offenbar niemand mehr.

    Am nächsten Tag stand schon fest: Machen wir wieder. Seitdem immer kurz vor oder nach Ferienbeginn, auch in diesem Jahr. „Wir sind dadurch ins Gespräch gekommen“, sagt Annegret Lamey. Wobei manche in den Jahren beim Sie geblieben, die meisten mittlerweile aber doch beim Du gelandet sind. Manchmal muss man sich vergewissern: „Entschuldigen Sie, aber waren wir nicht seit letztem Jahr beim Du?“

    Ein Du-Sie-Verhältnis, das passt eigentlich ganz gut. Weil die Beziehung zu den Nachbarinnen und Nachbarn ja auch so eine Art Zwischending ist, ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz. Wenn die Deutschen gefragt werden, wie sie sich eine ideale Nachbarschaft vorstellen, klingt das daher auch immer ein bisschen nach: Schon – aber … Also: Schon möglichst ungestört leben – aber eben auch Kontakt haben. Man will sich nicht in den Kochtopf schauen lassen, so drückt es Soziologe Sebastian Kurtenbach von der FH Münster aus, aber man schätzt es natürlich schon, wenn der andere zum Beispiel die Pakete annimmt. „Was wichtig ist für Nachbarn, ist das Vertrauen zueinander, die Bereitschaft zur Nothilfe, und dass man sich an gewisse Verhaltensregeln hält“, sagt der Professor.

    Kennt man sich und kommt man miteinander aus, geht es allen besser

    Es gibt ständig Umfragen zu diesem Thema, je nachdem, ob man in der Stadt oder auf dem Land fragt, fallen sie ein wenig unterschiedlich aus. Auch weil die Regel gilt: „Je enger Menschen zusammenwohnen, desto mehr versuchen sie, Distanz zueinander zu schaffen.“ Aber was quasi in allen Studien gleichbleibend festgestellt wird: Kennt man die Menschen, die neben einem wohnen und kommt gut mit ihnen aus, geht es einem besser!

    Bestätigt so Kurtenbach, bestätigt so aber zum Beispiel aus eigener Erfahrung auch Helga Franke, in deren Nachbarschaft nicht seit dreißig, sondern erst seit ein paar Jahren gefeiert wird. Aber es sogar eine für den Anlass gebastelte Wimpelkette gibt, die quer über die Straße gespannt wird. Ein paar Biertischgarnituren, ein Grill, ein Fässchen Bier … – das ist auch hier die Grundausstattung. Der Rest wird von Nachbarinnen und Nachbarn mitgebracht.

    Wie sich das Verhältnis seitdem geändert hat? „Wir haben überhaupt erst eines bekommen“, sagt Helga Franke: „Die Straße ist relativ lang, da hatte man früher oft nur Kontakt zu den direkten Nachbarn. Aber jetzt kennt man sich, grüßt sich nicht nur, sondern wechselt auch mal ein paar Sätze.“ Dass die Menschen in der Straße ein wenig näher zusammengerückt sind, das habe man auch in den vergangenen Monaten erlebt. „Da gab es auch in der Nachbarschaft den einen oder anderen Quarantänefall, und da wurde natürlich gefragt, ob man vom Einkaufen etwas mitbringen , irgendwie anders helfen kann.“ Was wiederum sich genau mit den Wünschen der Deutschen an ihre Nachbarinnen und Nachbarn deckt: dass man sich in der Not auch mal hilft. Der Nachbarschaftskitt, der an so einem lauen Sommerabend verteilt wird, an anderen dunkleren Tagen dann hält. Als ein Sturm über unser Viertel wehte, die Bäume krachten, auch die Blutbuche mit den Kindernamen stürzte, der Strom weg war, saßen noch am gleichen Abend alle geschockt zusammen bei Kerzenschein, Käse und Wein – eben weil man sich da schon kannte.

    Mit Wimpelkette und Bienenstich... - und der Polizei!?

    Am besten also mal zusammen feiern! Zeit, Bierbank und Essen teilen. Klingt doch ganz einfach, muss aber natürlich erst mal jemand anstoßen. Immer häufiger, sagt Soziologe Kurtenbach, organisieren solche Feste zum Beispiel Wohnungsunternehmen für ihre Mieter, eben weil sie um den Wohlfühlfaktor Nachbarschaft wissen. Dann wird der Grill aufgestellt und am besten auch gleich vom Profi bedient, Kinderschminken organisiert, vielleicht auch eine Hüpfburg geordert.

    Was das Kinderprogramm in der eigenen schmalen Straße betrifft: Manchmal fehlen jetzt dafür die Kinder. Zu groß geworden, um noch das große Straßenfest-Plakat zu malen. Oder noch zu klein. Auch das Bobbycar-Rennen wird derzeit ausgesetzt, wobei vielleicht auch deswegen, weil ein Kind dann eben doch mal weitergefahren ist als bis zur Kurve – und das in schon stockfinsterer Nacht. Die Eltern hinterherrannten, irgendwann mit dem Kind auf und dem Bobbycar unterm Arm wieder zurückkamen.

    Was gleich geblieben ist: Die Einladung, die jedes Jahr im Briefkasten liegt. Auch eine Wimpelkette. Oft Gewitter. Dass es fürs Buffet keine Vorgaben gibt. Sein Grillgut muss jeder für sich mitbringen, dazu etwas für alle. Selten, dass es etwas doppelt gibt, einmal kurioserweise gebratene Zucchini, einmal mit, einmal ohne Knoblauch, wie gesagt, die Ausnahme. Legendär der Bienenstich! Gedichte wurden schon vorgetragen, ein Straßenquiz gemacht. Noch nie aber passierte, was die Freundin mit einem gewissen zufriedenen Stolz erzählt: „Bei uns kommt jedes Jahr die Polizei.“ Weíl es zu spät ist, zu laut. Aber natürlich wisse die Nachbarschaft auch, wer die Streife ruft …

    „Ach, dazu sind wir zu bürgerlich“, sagt Annegret Lamey. Mittlerweile geht sie eher als eine der Ersten als der letzten: „Da höre ich sie dann alle noch brabbeln …“

    Wir gingen an jenem ersten Abend früh. Danach oft später.

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