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Kinderliteratur: 75 Jahre Pippi Langstrumpf: Das Kind wird aufmüpfig

Kinderliteratur

75 Jahre Pippi Langstrumpf: Das Kind wird aufmüpfig

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    Was für ein Kind! Pippi Langstrumpf., wie sie von Ingrid Vang Nyman in der schwedischen Erstausgabe des Buches gezeichnet wurde
    Was für ein Kind! Pippi Langstrumpf., wie sie von Ingrid Vang Nyman in der schwedischen Erstausgabe des Buches gezeichnet wurde

    Wer kann schon einem fiebernden Kind einen Wunsch abschlagen? Immer und immer wieder wollte das kleine Mädchen von der Mutter Geschichten hören, als es mit Lungenentzündung im Bett lag und Sehnsucht nach ein bisschen Abwechslung, nach Spaß und vielleicht auch nach Trost hatte. „Erzähl mir mehr!“, forderte die Siebenjährige beharrlich. Dabei hatte die Mutter doch schon Abend für Abend Geschichten erfunden, sodass sie gar nicht mehr wusste, wovon sie noch erzählen sollte. „Erzähl mir von Pippi Langstrumpf!“, schoß es der kleinen Karin durch den Kopf.

    Dieser spontan erfundene Name reichte Astrid Lindgren offenbar aus, um sie zu einer neuen Geschichte zu inspirieren, einer mit einem Mädchen, das so einzigartig war, dass es zu diesem ulkig klingenden Namen passte: karottenrote Haare auf dem Kopf, unzählige Sommersprossen im Gesicht, vor allem aber bärenstark, mutig, schlagfertig, sehr witzig und stinkreich noch dazu. Ohne Eltern, dafür mit einem Affen und einem Pferd, lebt sie in einem verfallenen Haus, der Villa Kunterbunt. Zur Schule geht sie nicht, und wann sie ins Bett muss, bestimmt sie selbst. Wenn es ihr gefällt, läuft sie rückwärts, zum Putzen schnallt sie sich Scheuerbürsten unter die Füße und rutscht darauf durch die Küche. Ein merkwürdiges Kind, diese Pippilotta Viktualia Rollgardina Schokominza Efraimstochter Langstrumpf, wie sie mit vollständigem Namen heißt. Das sagen die, die ihr begegnen. Ein tolles Mädchen, das man gern zur Freundin haben würde, finden alle, die von ihr lesen.

    Denn die Geschichte, die Astrid Lindgren damals 1941 erfunden hatte, schrieb sie drei Jahre später, als sie selbst mit einem verstauchten Knöchel darniederlag, als Geschenk zum zehnten Geburtstag ihrer Tochter Karin in eine Kladde mit schwarzem Umschlag. Ein Jahr später, vor 75 Jahren, erschien sie als gedrucktes Buch in Schweden.

    66 Millionen Exemplare verkauften sich bis heute in aller Welt

    Damit nahm eine andere, eine ebenso einzigartige Geschichte ihren Anfang: die des Kinderbuchs, das zu einem Klassiker wurde. In Zahlen heißt das: In 77 Sprachen wurden die drei Bände „Pippi Langstrumpf“, „Pippi Langstrumpf geht an Bord“ und „Pippi in Taka-Tuka-Land“ übersetzt, 66 Millionen Exemplare verkauften sich bis heute in aller Welt, wobei die Bücher in Deutschland am beliebtesten sind. Pippi Langstrumpf ist zu einer Ikone der Kinderliteratur geworden. Eltern und Großeltern reichen das Buch bis heute weiter an junge Leser und erinnern sich dabei an ihre ersten Leseerfahrungen. Immer wieder schafft es die Trilogie auf die Liste der besten 100 Werke der Weltliteratur – neben Büchern wie „Die Blechtrommel“ oder „Das Decamerone“. Von den vielen Übertragungen in andere Medien wie Hörbücher, Theaterstücke, Spiele, Zeichentrick- und Spielfilme ganz zu schweigen. Eine internationale Neuverfilmung ist in Arbeit. Und auch im Deutschen Bundestag hatte der Rotschopf in Person der SPD-Politikerin Andrea Nahles bekanntlich einen erheiternden Auftritt. Was ist nur dran an diesem Mädchen, das Kinder und Erwachsene bis heute bezaubert?

    Am besten fragt man danach Silke Weitendorf, die Tochter des Hamburger Verlegers Friedrich Oetinger, der Pippi Langstrumpf 1949 nach Deutschland brachte. Sie war die erste deutsche Leserin und damals acht Jahre alt, als ihr Vater das Buch auf einer Stockholmreise entdeckte. „Ich kann mich erinnern, dass ich sofort bemerkt habe, was für eine wunderbare Spielkameradin Pippi ist, und wie gerne ich Annika gewesen wäre“, sagt sie, und auch am Telefon ist zu hören, wie begeistert sie damals war. Etwa von der großartigen Idee des Sachensucherspiels, das sie sofort nachahmte. Mit großen Augen und heißen Wangen sei sie vor dem Buch gesessen oder habe ihren Eltern zugehört, wenn die daraus vorlasen. „Ich war fasziniert davon, dass Pippi selbst bestimmt, wie sie lebt“, weiß sie noch. „Und natürlich habe ich ihren Einfallsreichtum und ihre herrlichen Lügengeschichten geliebt.“

    Eltern verboten ihren Kindern die rebellische Lektüre

    Heute ist Silke Weitendorf 79 Jahre alt und Pippi Langstrumpf hat sie seit damals begleitet. Energisch verteidigen musste sie das Buch, wenn sie es Freundinnen zum Geburtstag schenkte und die Mütter verboten, dass ihre Töchter solch rebellische Lektüre lasen. Immer wieder las sie selbst die Pippi-Bücher dann als Verlegerin und stellte als Erwachsene „mit Freuden“ fest, welch hintergründiger Humor, wie viele sozialkritische und politische Aspekte oder Anspielungen in Pippis Denken, Handeln und Äußerungen versteckt sind. In ihrem Büro in Hamburg ist Silke Weitendorf umgeben von gut einem Dutzend Pippi-Figuren und erzählt davon, wie Pippi Langstrumpf, aber auch die anderen Werke Astrid Lindgrens, sie in ihrer Sichtweise auf Kinder und in ihrem Umgang mit ihnen geprägt haben. „Dass man sie weltoffen erziehen, ihnen Selbstständigkeit zugestehen und zutrauen kann, das findet man in diesen Büchern.“

    Man kann sich lebhaft vorstellen, wie diese Botschaft vor 75 Jahren, als die Prügelstrafe erlaubt war und Kinder vor allem parieren mussten, auf Widerstand stieß. Pippi kratzte an der Autorität der Erwachsenen. Auch in Deutschland erhielt der Verlag Post von Pädagogen, die sich über das gefährlich aufmüpfige Vorbild entrüsteten. Nur die Rezensenten waren sich sofort einig: „Da müssen erst die Schweden daherkommen und uns zeigen, wie man das köstlichste Kinderbuch der Welt macht!“, war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen.

    Ebenso gut kann man sich vorstellen, dass heutige Helikoptereltern blass werden, wenn sie lesen, wie Pippi in einen hohlen Baum hinuntersteigt oder auf der Flucht vor den Polizisten, die sie in ein Kinderheim stecken wollen, über Dachgiebel hüpft. Und dann vielleicht doch ins Nachdenken kommen ob der großen Freiheit für das Kind, die hier gefeiert wird. Denn schon in ihrem ersten Buch fand die große schwedische Kinderbuchautorin zu ihrem Lebensthema: der Autonomie des Kindes. Pippi lebt allein in der Villa Kunterbunt und kann tun und lassen, was sie will. Ihre Sehnsucht – „wenn ich einmal groß und stark bin“ – finden die jungen Leserinnen und Leser in dem Mädchen, das ein Pferd auf seinen Händen tragen kann, sich Regeln und Verboten munter widersetzt und sich von Erwachsenen nichts gefallen lässt. Pippi weiß auf alles eine Antwort, eine witzige meist dazu. Sie ist mutig und unbefangen, dabei warmherzig und zugewandt. Sie überwindet die ungeliebte kindliche Unterlegenheit und kann doch ein Kind bleiben, das spielen, Abenteuer erleben und Spaß haben darf.

    Ein Mädchen mit Lausbubencharakter, das war neu

    Damit war Pippi Langstrumpf als Figur, noch dazu als weibliche, eine Vorreiterin, sagt Inger Lison, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Hannover. „Ein Mädchen mit Lausbubencharakter, das war neu.“ Pippi entspreche keinen Rollenstereotypen, und das hebe sie von den rosaroten Figuren vieler heutiger Kinderbücher, zumal der speziell auf Mädchen ausgerichteten, ab, sagt Lison, die ihre Dissertation über das Erfolgsgeheimnis von Astrid Lindgren geschrieben hat.

    „Es gibt viele Bücher aus dieser Zeit, die man nicht mehr empfehlen würde, ,Pippi Langstrumpf‘ gehört nicht dazu,“ bekräftigt sie und nennt weitere Gründe für die zeitlose Qualität des Werks: die Erzählhaltung, die solidarisch mit den Kindern ist. Auch habe Lindgren sehr innovativ für die damalige Zeit geschrieben, meint Lison und untermauert das mit dem Hinweis auf die Kombination von Fantastischem mit der Realität, die Verwendung von Nonsens-Elementen, dem köstlichen Humor und dem Bruch mit Konventionen. Vor allem aber fänden Kinder in dem Buch ihre geheimsten Wünsche und Träume für ein aufregendes Leben erfüllt, sagt die 41-Jährige und erinnert sich dabei auch an die eigene Leseerfahrung. Lison sitzt beim Skype-Gespräch vor einer Bücherwand und zieht ihre alte Pippi-Ausgabe, das berühmte blau-gelbe Büchlein, aus dem Regal. „2,80 DM, hat das damals gekostet.“ Sie habe durch Pippi gelernt, dass man Erwachsene und ihr Verhalten durchaus auch hinterfragen könne, hat die Literaturwissenschaftlerin in Erinnerung.

    Die Feministinnen haben sie längst als Rollenmodell okkupiert

    Es sind Themen von allgemeiner Gültigkeit, die sich in „Pippi Langstrumpf“ finden – Freiheit, Individualität, Freundschaft, kindliche Abenteuerlust, dazu Werte wie Mitgefühl, Großzügigkeit und Vertrauen. Das Buch ermutigt Kinder immer noch, den eigenen Fähigkeiten zu trauen, und ist eine Ermunterung zu Fantasie und zum Anderssein. Da stört es wenig, dass Pippi eben doch in einer anderen Zeit lebt und mit ihrem Vater in Taka-Tuka-Land nicht über Skype kommuniziert. Und auch wenn das Verständnis von Kindheit heute fortschrittlicher, die Erziehung antiautoritärer, die Gesellschaft liberaler ist, bleibt Pippi ein besonderes Kind und eine charmante Rebellin. Wer nach Bezügen zur Gegenwart sucht, bleibt nicht nur an den zwei Zöpfen hängen, um an das andere schwedische Mädchen zu denken, das den Erwachsenen den Marsch bläst. Die Feministinnen haben die selbstbewusste Pippi längst als Rollenmodell okkupiert, und auch in der #MeToo-Bewegung kann man sich Pippi, die klar ihre Grenzen zieht, ganz gut vorstellen. Dass sie gängige Schönheitsideale einfach verkehrt und zu ihrem Äußeren steht, ist in einer Zeit, in der Selbstoptimierung alles ist, durchaus eine Botschaft.

    Ja, Pippi Langstrumpf hat uns auch heute einiges zu sagen. Als die Ausgangsbeschränkungen wegen der Corona-Krise verkündet wurden, verschickte der Oetinger Verlag ein Pippi-Zitat: „Am besten, ihr geht jetzt nach Hause, damit ihr morgen wiederkommen könnt. Denn wenn ihr nicht nach Hause geht, könnt ihr ja nicht wiederkommen. Und das wäre schade.“

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