Herr Vogl, wenn es um das inzwischen fast unentwegte Wogen von Empörungswellen in den sogenannten sozialen Netzwerken geht, um Hass und Hetze dort, dann wurde das meist bedauert als unerwünschte Nebenerscheinung, die es irgendwie zu bändigen gilt. Ist das ein fatal verharmlosendes Missverständnis? Ist der Shitstorm sogar das eigentliche Produkt und der nützlichste Motor der Plattform-Ökonomie?
Joseph Vogl: Jedenfalls lassen sich solche Wallungen nicht einfach psychologisch erklären. Man sollte vielmehr an die Mobilisierungskraft neuerer Geschäftsmodelle denken. Und die wurden zunächst durch eine Ausnahmeregelung seit Mitte der 1990er Jahre ermöglicht. Damals hatte man in den USA ein Gesetz verabschiedet, das neben der rabiaten Privatisierung der digitalen Netzwerke auch ein folgenreiches Haftungsprivileg in die Welt brachte: Internetprovider und Plattformunternehmen wurden nun von jeder Verantwortung für die dort eingestellten Inhalte befreit. Anders als andere Massenmedien können diese Unternehmen für den von ihnen vertriebenen Quatsch nicht mehr belangt werden. Das war der berühmte Paragraf 230 des Internetgesetzes von 1996. Seitdem gilt eine Art „Internet-Exzeptionalismus“.
Heißt das, von Facebook oder Twitter kann gar nie zu erwarten sein, dass sie Hass und Empörung zu bändigen versuchen, weil sie damit ihr eigenes Geschäftsmodell im Kern unterminieren würden?
Vogl: Ob und was dort gebändigt oder aufgepeitscht wird, entscheiden die Konzerne selbst. Sie setzen sich selbst die Regeln, nach denen zensiert wird oder eben nicht. Man kann sie allenfalls nachträglich anflehen, einmal publizierte Inhalte wieder zu löschen. Und natürlich ist das profitabel: Je mehr, je schneller und je intensiver kommuniziert wird, desto mehr Daten können geerntet und an die Werbekunden verkauft werden. Große Aufregung in den Kanälen ist also gut fürs Geschäft.
Joseph Vogl: Das Misstrauen aller gegen alle wurde im Kapitalismus produktiv
Ihr aktuelles Buch heißt viel grundsätzlicher „Kapital und Ressentiment“. Inwiefern hängt das eine also ohnehin mit dem anderen zusammen?
Vogl: Das lässt sich nicht mit zwei Sätzen beantworten. Aber vielleicht kann ich ein paar Hinweise geben, wie man von einem zum anderen kommt. Schon in der frühen Neuzeit hat man beobachtet, dass alte christliche Todsünden wie Habgier oder Neid auf den Märkten produktiv werden, sie beleben sozusagen das Marktgeschehen. Im 19. Jahrhundert hat man dann einen neuen Sozialaffekt beschrieben, eben das Ressentiment: Kapitalistische Konkurrenzgesellschaften werden von Bereicherungslust und allgemeinen Vergeltungsgefühlen, vom Misstrauen aller gegen alle angetrieben. Stets gibt es jemanden, der mehr hat als man selbst. Immer wird einem etwas weggeschnappt.
Und heute, in den Plattformunternehmen oder sozialen Medien?
Vogl: Dort werden die bisherigen Märkte und Konkurrenzen um neue Meinungsmärkte ergänzt. Man wird ja zum Urteilen über alles und jeden, zum Evaluieren, Abschätzen und Bewerten regelrecht herausgefordert. So verschärfen sich kognitive und affektive Absonderungen und soziale Verklumpungen. Unter den aktuellen ökonomischen und informationstechnischen Bedingungen werden also separate und divergierende, konkurrierende und konfligierende „Völkchen“ hervorgebracht. Und das wäre der Nährboden des gegenwärtigen Ressentiments.
"Die bloße Meinung wird mit aggressiven Besitzanspruch reklamiert"
Wie drastisch sind die Folgen der Verschärfung dieser Erscheinung für die heutige Gesellschaft? Gibt es so etwas im eigentlichen Sinne überhaupt noch: Gesellschaft?
Vogl: Drastisch wäre vielleicht zunächst, dass dabei die Meinung und das Meinungshafte zum Maßstab aller Äußerungsweisen geworden ist: „Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen“, „ich lasse mir meine Meinung nicht nehmen“. Das Recht auf die eigene Meinung bedeutet ja nichts anderes als das Recht, auf jede Begründung oder Rechtfertigung verzichten zu dürfen. Selten zuvor hat man die bloße Meinung mit solch einem aggressiven Besitzanspruch reklamiert. Und natürlich heizt das soziale Spaltungskräfte an.
Die Demokratie indes lebt ja von der Debatte und dem Streit. Aber wenn sie auch nie besonders nah am Ideal gewesen sein mag, in dem sich qua Vernunft das bessere Argument durchsetzt – sind wir davon heute weiter entfernt denn je, wenn alles nur noch Emotion und Moral ist, in der „dynamisierten Meinungsindustrie“, wie Sie es nennen?
Vogl: Ich glaube, es geht weder um Emotionen noch um Moral. Sondern um etwas, das man idiotische Gewissheiten nennen könnte – wenn Idiotie vom griechischen „idios“, also „selbstisch“ oder „beschränkt“ herkommt. Meinungen im strengen Sinn sind eben idiotische Gewissheiten, und über die gibt es keine Debatte und keinen Streit, bestenfalls Gezänk und Geplärre. Und damit lässt sich keine Demokratie machen.
Liegt also das, was wir mal Öffentlichkeit nannten, im Sterben?
Vogl: Nein, die sogenannte Öffentlichkeit wird nur verändert oder reformiert. Und man sollte nicht vergessen, dass rückblickend immer idyllische Verhältnisse ausmacht werden, die es so nicht gab: Was man sich als „kritische“ Öffentlichkeit oder „vierte Gewalt“ vorgestellt hat, war stets ein Schlachtfeld politischer und ökonomischer Interessen. Aber wahrscheinlich lassen sich wenigstens drei Indikatoren für den Umbau der Öffentlichkeit heute benennen. Das betrifft erstens das Schwinden von Gatekeepern wie Lektoren oder Redakteuren, also von professionellen Schleusenwärtern. Das Idol einer Direktkommunikation aller mit allen erzeugt Unmittelbarkeitsillusionen – die Botschaften scheinen direkt und mir persönlich ins Haus zu flattern. Man möchte keine professionellen Interpreten und Berichterstatter mehr, und die digitale Kommunikation ist also irgendwie evangelikalisch geworden. Damit verblasst zweitens auch die ältere Unterscheidung zwischen öffentlich und privat. Die heimische Ballonseide wird sozusagen zum Straßenkostüm. Und das scheinbar Authentische, das Ausstellen des Intimen hat einen besonderen Marktwert erhalten.
Und drittens?
Vogl: Drittens gilt vielleicht etwas, das ich gerne „ballistische“ Kommunikation nennen möchte. Es geht in den Netzwerken um Schnellschüsse, es geht um Targeting, Peilung und fixe Treffer, es geht um die Perfektion von Schlagfertigkeit im wörtlichen Sinn, um die Herstellung von Informationsgeschossen. Unmittelbarkeitsillusionen, Exhibitionismus und das Bemühen um hohe Trefferquoten wären also vielleicht Indizien für eine neue Öffentlichkeit.
Bolsonaros Anhänger skandierten "WhatsApp!" und "Facebook!"
Haben sich damit auch die Politik und der Typus des Politikers verändert?
Vogl: Zunächst kann man bemerken, dass manche Konzerne wie Facebook recht stolz darauf sind, kollektive Entscheidungsmacht abseits und neben eingespielten politischen Prozeduren zu organisieren. Mark Zuckerberg selbst hat sich einmal damit gebrüstet, dass die Wahl eines Hindu-Nationalisten in Indien oder die Wahl eines Immobilienmaklers in den USA 2016 ohne Facebook anders ausgegangen wären. Und nach der Wahl des gegenwärtigen brasilianischen Präsidenten haben seine Anhänger „WhatsApp!“ und „Facebook!“ skandiert. Was hier eine politische Rolle spielt, ist wohl das Phantasma einer direkten Ermächtigung. Wenn der ehemalige US-Präsident aus der Morgentoilette heraus einen Tweet abdrückte, hatte er eine unmittelbare Teilhabe am Ritus politischer Macht suggeriert. „Leader“ und „Follower“ werden direkt miteinander verschaltet, da braucht man keine ordentlichen Wahlen und keine Parlamente mehr. Eine Neigung zu autoritären Formen des „Empowerment“ ist da wohl eingebaut.
Was können klassische Medien angesichts dieser neuen Informationsindustrie tun? Nichts? Das Spiel bestenfalls nicht mitspielen, auch auf die Gefahr hin, damit ihren eigenen Untergang zu beschließen? Oder, wie heute zumeist zu beobachten: die Kanäle und damit deren Dynamik selbst mitbedienen, aber letztlich versuchen, zu argumentativen und faktenbasierten Auseinandersetzungen in der Sache zu führen, sofern und solange das noch gelingt?
Vogl: Wenn ich einige Vertreter der traditionellen Massenmedien wie der Presse richtig verstanden habe, stehen sie mit dem Rücken zur Wand. Und die Redakteure im Printbereich werden von Online-Redaktionen gehetzt – hier werden die relevanten Klickzahlen erreicht, nicht zuletzt in den Sparten Wellness und Sport. Recherchen und Reportagen sind im Verhältnis dazu wohl recht kostspielig geworden, also ökonomisch weniger interessant. Also wird es zwangsläufig darum gehen, neue Quellen der Finanzierung aufzutun, losgelöst von den Gewinnaussichten für Konzerne und Eigentümer. Es wäre durchaus denkbar, dass sich die Zukunft journalistischer Arbeit irgendwo zwischen Mäzenatentum, Stiftungsprojekten und Crowdfunding entscheidet.
Joseph Vogl sagt "Ja" zur Zerschlagung von Facebook - und fordert mehr
Werden in diesem Wettbewerb der Aufgeregtheit nicht allzu leicht reell womöglich deutlich größere Probleme übersehen? Wie etwa Sahra Wagenknecht meint, über die anwachsende Ungleichheit rede kaum noch jemand, während korrekte Gender-Sprache ständig ein hitziges Thema sei?
Vogl: Ich würde das anders drehen. Denn es mag sein, dass die laute Empörung gegen die Diskussion von Geschlechterfragen, gegen Genderstudies etc. – eine Aufregung, die ja meistens von rechts kommt – von anderen sozialen Fragen ablenken soll. Dass aber über anwachsende Ungleichheit nicht geredet und geschrieben würde, ist schlicht falsch. Thomas Pikettys Buch über die dramatisch zunehmende Ungleichheit in Vermögen und Einkommen, „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, war wohl der größte globale Erfolg einer wirtschaftswissenschaftlichen Publikation überhaupt. Der Unterschied liegt schlicht in der Praxis: Gender-Sternchen in Ämtern und Universitäten lassen sich eben leichter verordnen und durchsetzen als höhere Mindestlöhne, Vermögenssteuern oder internationale Finanztransaktionssteuern.
Im Buch enden Sie mit einem Donnerschlag: „dass die Feindseligkeit aller gegen alle nicht nur zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell, sondern zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden“ sei. Und: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird.“ Meinen Sie das Ausbrechen eines Bürgerkriegs, den manche in den „sozialen Netzwerken“ ohnehin bereits am Wüten sehen? Oder als nationalistisch entfachbare Stimmungsgrundlage für einen Krieg im Äußeren?
Vogl: Ich habe das etwas anders wahrgenommen. Kein Donnerschlag, sondern ein fernes Donnergrollen. Und am liebsten wäre es mir, man würde dieses Schwarzmalen als Aufruf zum Nachweis des Gegenteils verstehen. Ich hätte also nichts dagegen, in der Beobachtung widerlegt zu werden, dass sich der demokratische Rechtsstaat in der Defensive befindet, in Europa und anderswo, dass autoritäre Regimes gerade eine erstaunliche Konjunktur haben, dass man hier und dort – etwa in den USA am Anfang des Jahres und jetzt in Israel – einen Bürgerkrieg ausruft, dass man neue Nationalismen befeuert und damit Erfolg hat, wie mit dem Brexit …
Und noch etwas kann einem in Ihrem Buch ziemliche Sorgen bereiten: Sie beschreiben, dass die globale Supermacht der Finanzindustrie aus allen letzten Krisen nur immer noch dominanter hervorgegangen ist, obwohl diese teilweise durch sie selbst verursacht waren. Da wir nun ja in einer wuchtigen weltweiten Krise mit erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen stecken: Wird nach Corona das Regime noch umfassender?
Vogl: Nicht erst nach der Pandemie, sondern schon jetzt: Die Vermögenskonzentration bei den Reichsten ist noch größer geworden, und die Plattformunternehmen sind so einflussreich und kapitalstark wie nie zuvor.
Sollten Konzerne wie Facebook zerschlagen werden?
Vogl: Ja, gerade die Amerikaner haben das vorgemacht und seit Anfang des 20. Jahrhunderts keine schlechten Erfahrungen mit der Zerschlagung von Monopolen und Trusts gemacht. Aber noch besser wäre es, die totale Privatisierung von Information und damit die digitale Enteignung der Nutzer zu unterbinden.
Zu Person und Buch
Philosoph, Kultur- und Medienwissenschaftler: Joseph Vogl, 63, stammt aus dem niederbayerischen Eggenfelden, lehrt an der Humboldt-Universität in Berlin und in Princeton. Ein großer Erfolg war sein Buch "Das Gespenst des Kapitals" (2010), sein aktuelles heißt „Kapital und Ressentiment“ (C.H. Beck, 224 Seiten, 18 Euro)
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