Carlos, wie hat sich denn ein rastloser Musiker wie Sie die leidige Zeit des Füße-Stillhaltens vertrieben?
Carlos Santana: So wie immer eigentlich. Mit Lesen. Und mit Musikmachen. Nur eben, was die Aufnahmen von „Blessings And Miracles“ betrifft, notgedrungen auf andere Weise als sonst, nämlich getrennt über große Entfernungen, aber doch zumindest geistig vereint und verbunden. Wie sehr mir jedoch das gemeinschaftliche Spielen gefehlt hat, spüre ich aktuell auf unserer USA-Tournee. Wir laben uns am Glück, auf der Bühne zu stehen. Und auch das Publikum ist unheimlich durstig nach Musik und nach Begegnung.
Was haben Sie gelesen?
Santana: Seit ich mich erinnern kann, beschäftige ich mich in meiner Lektüre vor allem mit einem Thema: der Verbindung des Sinnlichen mit dem Übersinnlichen und der Vereinigung der metaphysischen mit der physischen Ebene. In diesem Feld gibt es immer etwas Neues zu lernen. Die amerikanischen Ureinwohner etwa haben eine spirituelle Sprache miteinander entwickelt, die einzigartig ist. Kein Computer und kein Satellit dieser Welt können diese Sprache verstehen, weil sie einfach viel zu tief und weit über das rein Linguistische hinausgeht.
"Musik für einen wohlwollenderen Blick auf uns selbst"
Und das, obwohl die Künstliche Intelligenz immer klüger wird?
Santana: Ach, Künstliche Intelligenz. Je stärker sie in unsere Lebensbereiche eindringt, und es gibt ja durchaus nützliche Anwendungen, desto wichtiger wird es für uns Menschen, die Verbindung zur Seele und zum Geist zu pflegen. Keine artifizielle Intelligenz hat Zugang zu unserem Kern, unserem Innersten.
Ist es Ihnen ein Anliegen, mit Ihrer Musik diesen Kern zu erreichen?
Santana: Ich danke sehr für diese Frage. Musik ist viel mehr als nur Noten, Akkorde, Verstärker und Instrumente. Musik ist der Klang des Lebens als solches. Er ist der Resonanzboden, auf dem wir schwingen. Musik lädt die Menschen ein, ihren Mut und ihre Hoffnung hochzuhalten. Eine Menge von uns sind gerade in einer schwierigen Phase. Wir funktionieren noch, aber wir fühlen uns nicht sehr beseelt. Ich spiele meine Musik, um die Menschen einzuladen, sich einen neuen, wohlwollenderen Blick auf ihr eigenes Selbst zu erlauben.
Ich mache eine Wandlung durch, wenn ich „Blessings And Miracles“ anhöre?
Santana: Das hängt von jedem selbst ab. Ich mache dieses Angebot. Jesus hat Wasser in Wein verwandelt. Das war kein Trick. Das war Alchemie. Das kann also wirklich funktionieren. Und eines der größten Alchemie-Wunder ist es, einen traurigen und verzweifelten Menschen zu einem glücklichen und beseelten Menschen zu machen. Nicht ohne Grund heißt das Lied, das ich mit Chris Stapleton zusammen gemacht habe, „Joy“: Freude. Die Leute hören in diesem Song Gospel, Country und Reggae, sie verstehen unsere Botschaft. In einer Welt voller Korruption, Misstrauen und Ungerechtigkeit wollen wir einen Beitrag des Lichts und der Zuversicht leisten.
"Ja, ich will wieder ins kommerzielle Nachmittagsprogramm"
Sie bringen seit mehr als 50 Jahren mit Ihrer Musik Licht und Freude. Sind Sie enttäuscht, dass die Menschheit noch nicht weiter ist?
Santana: Nun, der Weg ist lang, das stimmt. Aber die Menschen brauchten auch eine Weile, bis sie verstanden, wie man Feuer macht. Später entdeckten sie dann die Elektrizität und die modernen Kommunikationsmittel und vieles mehr. Wir dürfen die Menschen nicht überfordern, wir müssen mit Liebe und Zuwendung um sie werben. Wenn du betest, meditierst, einfach eine nette Person bist, die gute Dinge tut, dann bist du auf dem richtigen Weg zur Glückseligkeit. Aber niemand kann dich auf diesen Weg zwingen, du suchst ihn dir aus.
Ihr ganz persönlicher kreativer Weg hat Sie von dem Album „Africa Speaks“ nun zweieinhalb Jahre später zu „Blessings And Miracles“ geführt. Warum haben Sie sich gerade auf diese Reise begeben?
Santana: „Africa Speaks“ war eine liebevolle Erforschung afrikanischer Rhythmen und Melodien, dargeboten von einigen der großartigsten Sängerinnen und Sängern des Kontinents. Die Intention jener Platte war nicht, den Mainstream zu erreichen. Nun aber wollte ich ein Album machen, auf dem sich die Songs fürs Radio eignen. So wie damals „Supernatural“. Ja, ich will wieder in Ihr kommerzielles Nachmittagsprogramm, das Sie auf dem Heimweg von der Arbeit hören.
Der verstorbene Jazzmusiker Chick Corea ist auf „Angel Choir/ All Together“ noch einmal zu hören. Wie kam es dazu?
Santana: Mein Bruder Chick offerierte uns diesen Song. Es ist eine seiner letzten Aufnahmen, bevor er sich auf den Weg in eine andere Dimension machte.
Ist das Ihre Definition vom Tod? Eine andere Dimension?
Santana: Ja. Unsere Energie stirbt nicht, wenn wir die Erde verlassen. Sie geht nur an einen anderen Ort. Einen Ort außerhalb unseres Körpers. Das ist wie der Wechsel auf eine andere Frequenz. Ich glaube nicht an den Tod. Ich glaube an die Veränderung von Energie.
Santana: "Ich schätze die Integrität der Deutschen"
Zwei Songs sind richtig hart. „America For Sale“ mit Kirk Hammett von Metallica sowie das von Cory Glover von der Band Living Colour gesungene „Peace Power“.
Santana: Ich liebe harten Rock. Die Musik von Metallica, AC/DC oder Led Zeppelin löst bei mir großes Wohlbefinden aus. Ein Teil von mir will bald ein Album nur mit Liebesballaden rausbringen, der andere Teil wünscht sich eine richtige Heavy-Metal-Platte mit roher Energie. Inhaltlich handelt „Peace Power“ davon, dass alle Farben des Spektrums gleich schön sind und dass Entsetzlichkeiten wie die jahrzehntelange Polizeibrutalität gegen schwarze Menschen ein Ende haben müssen. Der Mensch darf nicht länger des Menschen Feind sein, sondern muss sein Verbündeter werden.
Worum geht es in „America For Sale“?
Santana: Als Amerika kolonialisiert wurde, ist den Einwohnern alles genommen worden. Bestenfalls blieb ihnen ein Leben in Knechtschaft. Heute wiederholt sich die Geschichte mit umgedrehtem Vorzeichen. Der Ausverkauf Amerikas an alle, die Geld haben – ich möchte jetzt keine bestimmten Nationen herauspicken – ist in vollem Gange. Wenn ich die Deutschen um eines bitten darf, dann darum, dass sie niemals ihre heiligen Unternehmen wie Daimler, BMW und Porsche verkaufen. Diese Autos brechen einfach nicht zusammen, ich spreche da aus sehr guter Erfahrung. Überhaupt schätze ich eure Standards, eure Ethik und eure tadellose Integrität sehr.
Vielen Dank. Aber denken Sie als naturverbundener Mensch nicht auch, dass unsere Spezies bald als Ganzes diesen Planeten verlassen muss?
Santana: Das Interessante an diesem Gedanken, den ich in der Tat habe, ist, dass er mich nicht beunruhigt. Die Erde ist ein resilienter Organismus, ich mache mir um sie auf lange Sicht keine Sorgen. Ich ärgere mich über die Arroganz der Menschen und darüber, dass wir denken, wir wären hier unverzichtbar. Sind wir nicht. Wenn morgen kein Mensch mehr übrig wäre, würde es Mutter Natur überhaupt nicht jucken.
Zur Person: Carlos Augusto Santana Alves, inzwischen 74, wurde in Mexiko geboren, lebt aber seit langem in den USA und hatte in den gut 50 Jahren seiner Karriere zwei Gipfel: die frühen Jahre, beginnend mit Woodstock und dem selbstbetitelten Debüt-Album – den weltweiten Charterfolg 30 Jahren danach mit „Supernatural“. Das aktuelle Werk „Blessings And Miracles“ ist sein 31. Langspieler. Seine zweite Frau Cindy spielt darauf Schlagzeug, zwei der drei Kinder aus erster Ehe wirken zudem mit – durch diese wurde Santana kürzlich Großvater.