Mr. Harris Sie haben "Vergeltung" während des ersten Lockdowns geschrieben. War die Arbeit gewissermaßen eine Zuflucht aus der Covid-Wirklichkeit?
Robert Harris: In der Tat hatte sie diesen Effekt. In den ersten Wochen des Lockdowns hatte ich enorme Schwierigkeiten mit dem Schreiben. Aber sobald ich mich daran gewohnt hatte, wurde das zu einem Refugium, in dem ich eine alternative Realität konstruieren konnte. Es war eine richtige Obsession für mich. Ich saß sieben Tage die Woche am Schreibtisch. Gleichzeitig gibt es aber auch Parallelen zwischen dem Krieg und der Pandemie – in der Art, wie diese unsere Welt durcheinanderbringt und uns täglich mit neuen Toten konfrontiert.
Allerdings ist das nicht Ihr erster Roman, der im Zweiten Weltkrieg spielt. Woraus erklärt sich die Faszination dieses Genres?
Harris: Womöglich war das jetzt das letzte Mal, dass ich über den Krieg geschrieben habe. Es gibt noch genügend andere Sujets. Andererseits zieht mich immer wieder etwas in diese Epoche zurück. Ich habe daraus so viel über Politik und Technologie gelernt. Gleichzeitig ist es unmöglich, allen Aspekten jener Zeit auf den Grund zu gehen. Der Zweite Weltkrieg ist das größte Ereignis der Geschichte, dessen Auswirkungen noch Jahrhunderte lang zu spüren sein werden.
Weshalb hatten Sie denn jetzt noch einmal Lust, sich der Ära noch einmal zu widmen?
Harris: Die Idee entstand 2016, nach dem Brexit-Referendum. Ich fand es wichtig, die Leute daran zu erinnern, dass vor nicht so langer Zeit, ein Staat vom Territorium eines zweiten Staats Raketen auf einen dritten abschoss. Es besteht die Gefahr, dass man den Frieden und Wohlstand, den wir seither genossen haben, als selbstverständlich betrachtet. Allerdings verfolge ich mit meinen Büchern keine moralische Mission. Ich erzähle diese Geschichten, weil ich sie faszinierend finde.
Glauben Sie denn, dass die Pandemie ähnliche Umwälzungen anstoßen kann wie der Zweite Weltkrieg?
Harris: Die Auswirkungen werden meines Erachtens enorm sein. Es gibt natürlich den entscheidenden Unterschied, dass keine Infrastruktur zerstört wird wie im Krieg. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn das unser Wirtschaftssystem, unsere Gesellschaft und Psychologie tief greifend beeinflusst. Die Art und Weise, wie wir mit anderen Menschen umgehen, mag sich ändern. Die Zeit des Händeschüttelns und der Umarmungen wird vielleicht vorbei sein.
Sie hatten ja bislang schon eine Vorliebe für Gesellschaften in Bedrohungssituationen …
Harris: In der Tat, die Pandemie passt in das Weltbild, das ich schon vorher hatte. Die meisten meiner Bücher beschäftigen sich mit der Fragilität unserer Zivilisation und Gesellschaft. Das ist ja auch der Grund, weshalb ich über Deutschland und den Krieg, die Zerstörung Pompeis oder das Ende der römischen Republik geschrieben habe. Mit "Der zweite Schlaf" habe ich die apokalyptische Vision einer dystopischen Welt entworfen. Ich werde von der Vorstellung, dass unsere sichere Wohlstandsgesellschaft der letzten 60 Jahre zu Ende sein könnte, regelrecht heimgesucht.
Das heißt Sie sind ein Geschichtspessimist?
Harris: Für mich ist das einfach eine Grundbedingung unseres Daseins. Geschichte folgt einem organischen Rhythmus. Es gibt Zerfall und Zerstörung, und daraus entsteht etwas Neues. Das Problem ist nur, dass das, was wir verloren haben, nicht so schnell zurückkehrt. Nehmen Sie das Ende des demokratischen Experiments der römischen Republik. Es dauerte viele Jahrhunderte, bis es eine neue Form der Demokratie gab. Und ich befürchte, wir bewegen uns in eine neue Ära, in der die Demokratie nicht mehr so funktioniert.
Woran liegt das?
Harris: An den sozialen Medien, die keine Ära der Aufklärung, sondern eine neue Epoche des Aberglaubens eingeleitet haben. Wer hätte das ahnen können? Man hätte doch denken sollen, dass ein Gerät, das einem das gesamte Wissen der Welt zur Verfügung stellt, uns alle klüger macht. Statt dessen scheinen wir alle viel dümmer geworden. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand seiner persönlichen Verschwörungstheorie frönen will. Soll er nur. In einer Demokratie hat jeder Recht auf seine eigene Meinung. Aber das Problem ist nur, dass das wiederum die Demokratie untergräbt. Denn die gründet sich auf den Glauben, dass die Menge ihre eigene Weisheit besitzt.
Andererseits gibt es verschiedenste Studien, die nachweisen, wie viel sicherer und besser das Leben im Lauf der Zeit geworden ist …
Harris: Natürlich gibt es Fortschritt. Wir leben in einer gesünderen, wohlhabenderen Gesellschaft, die beispielsweise Zugang zu sauberem Wasser und guter Gesundheitsversorgung hat. Allerdings denke ich nicht, dass die Menschheit intelligenter geworden ist. Ich weiß von keinem Politiker, der klüger wäre als Cicero. Unsere Architektur ist nicht besser als die römische. Das heiß, der Fortschritt spielt sich auf der technologischen Ebene ab, aber Mensch bleibt Mensch. Ich glaube nicht, an eine aufgeklärtere Zukunft. Da bewegt sich nichts stringent vorwärts. Wie hätte es sonst die unvorstellbare Barbarei des Zweiten Weltkriegs geben können?
Andererseits gibt es doch unbestreitbar positive Tendenzen – man nehme die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Sie auch in Ihrem Buch würdigen. Immerhin ist die wahre Heldin des Romans eine Offizierin der britischen Luftwaffe.
Harris: In der Tat, ich gebe zu, hier hat es drastische Fortschritte gegeben, sogar während meiner Lebenszeit. Die Figur dieser Frau, die von einem historischen Vorbild inspiriert war, war auch ein wichtiger Grund für diesen Roman. Wobei es neben der Gleichberechtigung noch andere massive Veränderungen zum Positiven gibt – zum Beispiel das Bewusstsein für ethnische Diskriminierung.
Glauben Sie mit Ihrem Skeptizismus daran, dass diese Veränderungen von Dauer sein werden?
Harris: Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin kein Schwarzseher, der das Ende der Welt heraufbeschwört. Ja, die Dinge können sich ändern. Der Mensch hat einen enormen Einfallsreichtum, wenn es darum geht, Probleme zu bekämpfen. Ich bezweifle eben nur, dass es eine zielgerichtete Vorwärtsbewegung gibt. Es kann hundert Jahre dauern, bis sich etwas verbessert. Und dazu müssen wir auch immer zurückblicken, woher wir kommen, damit wir verstehen, wohin wir gehen.
Wenn Sie in eine Epoche zurückreisen können, welche wäre das?
Harris: Das Problem ist: Die interessantesten Zeiten sind auch die ungemütlichsten. Wer würde schon während des römischen Bürgerkriegs leben wollen? Ähnliches gilt für die Französische Revolution. Ich möchte schon eine Zeit haben, wo es Antibiotika, Schmerztabletten und elektrischen Strom gibt. So gesehen bin ich im Hier und Jetzt ganz glücklich. Denn für mich sind Internet und Computertechnologie natürlich höchst nützlich. Das ist ein Goldenes Zeitalter für Autoren.
Obwohl die Buchverkäufe zurückgehen.
Harris: Das ist nicht ganz richtig. Zumindest bei uns in England sind während der Pandemie die Verkaufszahlen nach oben gegangen. Das Verlagsgewerbe war nicht vom ersten Lockdown betroffen. Natürlich spielen Bücher nicht mehr die gleiche zentrale Rolle in unserer Kultur. Diese Funktion haben jetzt Fernsehserien übernommen. Wir befinden uns ja nicht mehr im 19. Jahrhundert. Aber ich denke nicht, dass der Roman sterben wird.
Und was für Geschichten werden Sie nach der Pandemie erzählen?
Harris: Dazu müsste ich erst einmal wissen, wie die Geschichte, in der wir uns gerade befinden, enden wird. Wenn große Konflikte ausbrachen, ob der Erste oder Zweite Weltkrieg, hieß es immer: "Das wird Weihnachten vorbei sein." Und ähnlich ist es jetzt. Alles ist im Fluss, und es ist unmöglich, diese Erfahrung jetzt schon geistig zu erfassen. Denn derzeit fühlt sich alles noch absurd an. Ich habe akut nur eine Antwort: Ich schreibe lieber Bücher, die in der Vergangenheit spielen. Denn die veralten nie.
Zur Person: Ein umstrittenes Buch hat den aus den englischen Midlands stammenden Journalisten Robert Harris zum Bestsellerautor gemacht: "Vaterland" aus dem Jahr 1992 über die Nazi-Deutschland. Inzwischen gehört der 63-Jährige längst zu den Großen des politisch-historischen Thrillers, etwa mit der Cicero-Trilogie, aber auch verfilmt und ausgezeichnet wie für "The Ghostwriter" – sein Verfilmungspartner ist der so große wie umstrittene Roman Polanski. Harris ist verheiratet, vater zweier Kinder und Schwager von Nick Hornby.
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