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Betrachtung: Der Schneemann, Held unserer Wintersehnsucht

Betrachtung

Der Schneemann, Held unserer Wintersehnsucht

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    Er gehört schon längst zum Kulturgut der Menschheit: der Schneemann.
    Er gehört schon längst zum Kulturgut der Menschheit: der Schneemann. Foto: Kay Nietfeld, dpa (Symbolbild)

    Dieser kleine dicke Schneemann ist ein Desperado, eine verrückte Figur. Seine Schöpfer waren verspielte Leute, die sich mit den herrschenden Verhältnissen nicht abfinden wollten. Es dürfte diesen

    Der Schneemann von Saarbrücken ist ein Überlebenskünstler. Er hat schon über 20 Jahre auf dem kalten Buckel in seiner Vitrine. Das paradoxe Geschöpf des weltbekannten Schweizer Künstlerduos Peter Fischli und David Weiss (der 2012 gestorben ist) hebelt die Naturgesetze aus, denen Schneemänner gewöhnlich unterliegen. Wärme ist ihr Ende, Vergänglichkeit die Grundbedingung ihrer Existenz. Der Schneemann in seinem Schneewittchensarg vorm Heizkraftwerk aber schmilzt auch im Hochsommer nicht, seine dicke graue Eisschicht bildet sich aus Kondenswasser auf einem Grundkörper aus Beton.

    Vielleicht gibt es deshalb so unendlich viele unnatürliche Schneemänner, weil es so wenig natürlichen Schnee gibt? Schon früh hat sich die Winterfigur aus der Wetterabhängigkeit befreit und ist in Gefilde eingedrungen, in denen es egal ist, was das Thermometer anzeigt und ob es geschneit hat oder nicht. Als Dekorationsartikel, als populäre Kitschfigur, als niedlicher Winterkobold, als religiös nicht aufgeladener, profaner Allzweck-Botschafter eines Jahreszeitgefühls und Werbefritze haben die Menschen den Schneemann indoor domestiziert und verniedlicht. Eine Art Teddybär in Weiß, für den Winterhausgebrauch. Aufgeknüpft hängt er an Weihnachtsbäumen oder schmaucht als Räuchermännchen. 1962 zierte er sogar nackt wie immer das Titelblatt der Bravo. Er hat jetzt endlich auch einen eigenen Feiertag - am 18. Januar ist Welttag des Schneemanns. Den hat, nicht ganz uneigennützig, ein gewisser Cornelius Grätz aus Reutlingen ausgerufen, der ein Schneemann-Sammler ist und über 3000 Exemplare verfügt. Sein erster war aus Marzipan und nicht unschuldig weiß, sondern in einem ziemlich unappetitlichen Nikotingelb.

    Nun aber raus vor die Türe! Wenn jetzt Schnee läge, gute 15 cm, schöner fetter Pappschnee, dann würden überall Schneemänner gebaut. In Vorgärten, auf Wiesen, auf Schulhöfen. So wie Kinder schlecht am Strand sein können, ohne im Sand Gräben und Burgen zu bauen, so können sie auch Schnee nicht einfach auf sich beruhen lassen. Erst recht nicht, wenn sie erwachsen sind. Vielleicht haben die Menschen in Mitteleuropa ein Schneemann-Bau-Gen. Irgendeine archaische Lust am Formen und Bauen mit den Händen bricht sich da Bahn, irgendetwas, das älter ist als Töpferkurse in der Toskana - und übermütiger. Man schaue sich nur einmal wieder "Drei Männer im Schnee" an.

    Jedenfalls rollen sie große Kugeln (wenn die Grashalme knirschend mit eingesogen werden, wird’s richtig gut!) und türmen diese übereinander. Drei: Unterkörperkugel, Zentralkörperwanst, Kopf. Vielleicht noch zwei Armstummel. Und dann wird dieser Schneemann, der manchmal eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem weißen, speckrolligen Michelin-Männchen hat, eingekleidet und ausstaffiert - klassisch mit Zylinder, Kohleaugen, Karottennase, Schal, schwarzen Bauchknöpfen und einem Besen. Solche Bilderbuchschneemänner aber gibt es in der freien Wildbahn kaum. Auf dem Kopf tut’s auch ein umgestülpter Plastikeiner oder ein Kochtopf. Manchmal genügen drei Streichhölzer als Haare, ein Holzstück als Nase, Kieselsteine als Gebiss. Man sah auch schon Kohlblätter als Ohren. Jeder Schneemann ist ein Unikat - auch wenn er nicht von Fischli und Weiss gebaut wurde. Wir lebten nicht in einer Konsumgesellschaft, wenn es nicht auch das gäbe: ein Schneemann-Set mit Fertigbauteilen komplett aus Plastik: Zylinder, Schal, Pfeife, Möhre, Knöpfe, Kohlen.

    Während wir mit durchnässten Handschuhen und blauen Fingern, rollen und klopfen und auftürmen und modellieren, verschwenden wir keinen Gedanken daran, dass dies auch eine philosophische Lehrstunde ist. Denn aus dem Schnee, der vom Himmel fiel, etwas zu erschaffen, von dem wir wissen, dass es nicht nur völlig zweckfrei und herrlich nutzlos ist, sondern obendrein eine Demutsübung in Sachen Vergänglichkeit - das ist gelebte Freiheit. Wer einen Schneemann baut, lernt loslassen. Der Winterheld steht da, bis es taut - und verschwindet dann spurlos, versickert ganz von allein im Boden. Niemand braucht dazu die Dienste von "Schneemann Recycling GmbH", einem in Duderstadt ansässigen Entsorgungsfachbetrieb. Überhaupt ist Schneemann ein beliebter Name - in Hessen gibt es einen Schornsteinfegerdienstleister, der so heißt.

    Woher kommt der Schneemann? Er ist ja wohl nicht so einfach vom Himmel gefallen … Schon Michelangelo soll mit Schnee Figuren modelliert haben, die erste bekannte Bilddarstellung aber datiert vom Dezember 1780. Das frankensteinartige Geschöpf auf dem Kupferstich von Daniel Chodowiecki hat mit dem knuffigen Schneemann unserer Zeit wenig zu tun. Tatsächlich scheinen unsere Vorfahren Schneemänner eher wie übermächtige, grimmige Dämonen aufgetürmt zu haben, um sich an ihrem kläglichen Verschwinden und Schrumpfen im herbeigesehnten Frühling umso mehr erfreuen zu können. Vom weißen stummen Riesen mit Horrorfaktor schmolz der Schneemann dann auf das harmlose Format des wohlstandsbauchigen lieben Onkels, der Neujahrswünsche verziert und einem alles Mögliche einjagt - bloß keine Angst. Was es braucht, ist Pappschnee. Der Rest ist Menschenwerk.

    Im Schwäbischen Volkskundemuseum Oberschönenfeld vor den Toren Augsburgs ist der Schneemann derzeit Mittelpunkt einer Ausstellung, die zeigt, zu was die Knetmasse Schnee alles herhalten muss. Da gibt es das Foto eines Schneemanns mit Judenstern. Es gibt Schneemänner inmitten von Soldaten, die sich in Kriegswintern Pappkameraden und Feindbilder bauen. Hitlers Propagandaminister Goebbels ließ 1943 vom sehr talentierten Hans Fischerkoesen einen Zeichentrickfilm drehen, in dem ein Schneemann herzallerliebst durch eine idyllische deutsche Kleinstadt zwinkert und tollt - Zuckerguss über das Grauen des Kriegs.

    Für Winteridyll steht der Schneemann, der immer eine weiße Weste hat. Daran ändert auch kein Roy Black etwas, der 1968 auf die Melodie von "Jingle Bells" schmachtend vom kleinen weißen Schneemann im Garten sang. Nicht alle 68er waren so brav. Wenn es mit dem langjährigen Trend zu milden und schneeärmeren Wintern so weitergeht, wird der Schneemann noch zu einer Rarität. Und irgendwann muss man vielleicht nach Saarbrücken vor ein Heizkraftwerk pilgern, um den letzten seiner Art zu bewundern.

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