Natürlich ist es ein PR-Gag: Die Plattenfirma nützt seinen runden Geburtstag, um den wirklich allerletzten Tropfen aus dem großen Namen herauszuquetschen. Aber die gerade erschienenen „Lullabies“ (Verve/Universal) von Dave Brubeck hat tatsächlich noch niemand zuvor gehört; sie sind brandneu und vom Meister noch 2011 im hohen Alter von 91 Jahren eingespielt, ein knappes Jahr vor seinem Tod.
Da saß er also, allein am Flügel, und tat das, was er sein ganzes Leben lang am liebsten machte: im privaten Bereich für seine vier Söhne, seine Tochter sowie seine Frau Iola Kinder- und Wiegenlieder zu spielen. In solchen Momenten war Brubeck ganz bei sich. „Meine Familie gibt mir die Kraft, sie stand immer über allem. Musik kommt erst an zweiter Stelle“, gestand er 1998. „Ich ziehe jedes gemeinsame Dinner mit meiner Frau, jedes Gespräch mit meinen Kindern oder das Herumtollen mit meinen Enkeln einem Konzert vor. Wenn ich allerdings mal gemeinsam mit meinen Kindern musizieren kann, dann bin ich ein wunschlos glücklicher Mensch.“
Jazzpianist Dave Brubeck zelebrierte jeden Ton
Bei den Interpretationen dieser scheinbar simplen Songs wie „Brahms Lullaby“, „Danny Boy“, „Over The Rainbow“ und den Brubeck-Kompositionen „Going To Sleep“ oder „Koto Song“ wird diese Priorisierung deutlich hörbar. Dave Brubeck, der am 6. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre, zelebrierte jeden Ton, ließ ihn nachklingen, verband ihn kunstvoll mit anderen zu einem matt schimmernden Mobile und schuf so kleine Wunderwerke.
Das war die eine Seite Brubecks. Die öffentliche Wahrnehmung aber wird bis heute mit einem anderen Stück synchronisiert: „Take Five“, der Jazz-Hit des vergangenen Jahrhunderts. Ein lässig trudelndes, ohrwurmartiges Thema im ungeraden 5/4-Takt, welches die Bohème-Stimmung der 1960er Jahre perfekt einzufangen verstand. Selbsternannte Jazz-Kenner prahlen gerne mit ihrem Wissen, sein Altsaxofonist Paul Desmond habe angeblich „Take Five“ geschrieben. Doch das stimmt nicht. „Es entstand als Gemeinschaftsprojekt“, erzählte Brubeck. „Paul hatte zwar die Idee dazu und dachte sich einige Takte aus, aber ihm fehlte die Melodie. Meine Aufgabe bestand darin, alles zusammenzuführen. Ohne mich hätte es ,Take Five‘ nie gegeben!“
Freilich gilt der Song längst auch als Inbegriff des gefälligen Jazz-Klischees. Das Brandmal des weißen Mainstreamers haftet dem Pianisten deshalb bis heute an. Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn David Warren Brubeck aus dem kleinen Städtchen Concord in Kalifornien war weit mehr als nur ein fröhlich klimpernder, distinguierter Gentleman mit Hornbrille. Zeitlebens engagierte er sich für die Aufhebung der Rassenschranken – und verstand Jazz vor allem als essenziellen Bildungsauftrag.
Ein mit dem akademischen Zeigefinger agierender Künstler, der den intellektuellen Wert seines Vortrags über alles stellte, war Brubeck deshalb noch lange nicht. Er wuchs auf einer Ranch auf und erlebte zwei elterliche Pole, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: die Mutter Musiklehrerin, der Vater Cowboy. Der junge Dave fing Kälber mit dem Lasso ein und ritt tagelang über Land, um die Herde zurück zur Ranch zu treiben. Dabei nahm er den Takt der Hufe in sich auf und improvisierte darüber einen gegenläufigen Rhythmus – der Ursprung seiner späteren polyrhythmischen Kompositionen.
Dave Brubeck leistete Pionierarbeit für die Jugend
Schon während des Zweiten Weltkriegs gründete Brubeck die erste rassisch gemischte Armee- Band, wurde später Schüler des französischen Komponisten Darius Milhaud, der vor dem Faschismus in die USA geflohen war, und besuchte Vorlesungen von Arnold Schönberg, dessen Idee der Zwölfton-Musik ihn begeisterte. Und er entwickelte sich zum notorischen Anti-Zeitgeist. In den 1950ern, als seine Kollegen in die großen Hallen drängten, ging er zurück an die Schulen und leistete mit seinem bahnbrechenden „Jazz Goes To College“ elementare Pionierarbeit an der amerikanischen Jugend. 1959 veröffentlichte er „Time Out“, bis heute eines der erfolgreichsten Alben der Jazzgeschichte.
Wie ein großer roter Faden zieht sich der Kampf gegen die in den USA alltägliche Segregation durch seine Biografie. Mit Louis Armstrong nahm Dave Brubeck Anfang der 1960er Jahre das zeitkritische Jazz-Musical „The Real Ambassadors“ auf. Mit Charles Mingus schrieb er die Musik zum Film „All Night Long“, einer Othello-Adaption über eine gemischtrassige Liebesbeziehung. Immer wieder sagte er Konzerte und Fernsehauftritte ab, weil er aufgefordert wurde, seinen schwarzen Bassisten Gene Wright durch einen weißen Musiker zu ersetzen. Schließlich trat er 1964 mit Gene Wright im Weißen Haus auf – ein Triumph.
Jeder, der Dave Brubeck zu Lebzeiten traf, spürte es sofort: Hier war einer absolut mit sich im Reinen. Das Glück stand ihm sowohl im privaten wie im musikalischen Bereich zur Seite. Vor allem, weil es der Jahrhundert-Pianist anders anging, als der Rest: Er vereint das Beste aus zwei gegensätzlichen Welten. „Ich wollte nicht das gängige 3/4- oder 4/4-Schema verwenden. Damit klingt nämlich alles wie eine europäische Blaskapelle. Mithilfe von Milhaud entdeckte ich die unbegrenzte Rhythmuswelt des afrikanischen Kontinents: Jazz als rhythmische Basis, Klassik als melodische Struktur und dazwischen die Freiheit der Improvisation!“
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