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Interview: Verfassungsrechtler: "Auch die Kunstfreiheit ist ein Grundrecht"

Interview

Verfassungsrechtler: "Auch die Kunstfreiheit ist ein Grundrecht"

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    So sehen Konzerte in der Corona-Zeit aus: Das Europakonzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko fand am 1. Mai mit reduzierter Besetzung und ohne Publikum statt.
    So sehen Konzerte in der Corona-Zeit aus: Das Europakonzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko fand am 1. Mai mit reduzierter Besetzung und ohne Publikum statt. Foto: Monika Rittershaus/Berliner Philharmoniker

    Gottesdienste dürfen jetzt wieder stattfinden, Theater, Kinos und Konzerte indes bleiben weiterhin verboten: Ist das rechtlich zu rechtfertigen?

    Matthias Rossi: Juristisch ist das nicht mehr nachzuvollziehen. Meines Erachtens liegt der Grundfehler der Politik bei allem Verständnis für die Schutzmaßnahmen darin, dass die Politik immer branchenweise vorgegangen ist. Sie hat zunächst gefragt, ob etwas systemrelevant ist oder nicht. Dann hat sie Garten- und Baumärkte wieder geöffnet und nun auch wieder die Gottesdienste. In meinen Augen ist das verfassungsrechtlich problematisch. Viel sinnvoller – und rechtlich auch geboten – wäre gewesen, dass man sich auf bestimmte Kriterien einigt und diese auf alle Bereiche anwendet.

    Welche sollte man anlegen?

    Rossi: Diese Kriterien bestimmen sich danach, ob die Hygienestandards eingehalten werden können – also Abstand halten, Hände waschen und Mundschutz tragen. Bei Gottesdiensten wird ein gewisser räumlicher Abstand eingefordert und eine zeitliche Begrenzung, die mir nicht einleuchtet, vorgenommen. Insofern ist es unverständlich, warum nun Theater nicht öffnen dürfen und Konzerte nicht stattfinden können. Mit beschränkterem Publikum und entsprechenden Vorgaben, etwa was den Pausenverkauf angeht, wäre das doch unproblematisch.

    Beim Verbot von Gottesdiensten spricht das Bundesverfassungsgericht von einem „schwerwiegenden Eingriff“ in die Grundrechte. Warum gilt das nicht auch für die Kunst?

    Rossi: Der Eingriff in alle Grundrechte wiegt ganz besonders schwer. Ob die freie Religionsausübung ein besonderes Grundrecht sei, ist aus juristischer Sicht zunächst zu verneinen. Es gibt keinerlei Hierarchie unter den einzelnen Grundrechten. Kein Grundrecht verdrängt per se ein anderes. Artikel 4 über die Religionsfreiheit und Artikel 5 Absatz 3 über die Kunstfreiheit sind beides Grundrechte, die auch nicht unter einem Gesetzesvorbehalt stehen. Sie können also nur durch Grundrechte anderer und sonstige Verfassungswerte überhaupt beschränkt werden. Etwas anders stellt sich die Sache bei einer historisch-kulturellen Betrachtungsweise dar, weil die Religionsfreiheit über Jahrhunderte hinweg mühsam erkämpft wurde und man ihre Bedeutung nicht leichtfertig einem Virus opfern will. Daraus resultiert vielleicht das Gefühl, dass Religionsfreiheit wichtiger ist. Aber juristisch ist es nicht so.

    Artikel 4 des Grundgesetzes über die Freiheit des Glaubens und des Gewissens sowie die freie Religionsausübung ist deutlich ausführlicher formuliert als Artikel 5 über die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Könnte das eine Spur sein, warum der Staat hier noch ein bisschen genauer hinschaut?

    Rossi: Bei der Glaubensfreiheit will das Grundgesetz zwei unterschiedliche Bereiche schützen. Wir Juristen sprechen vom forum internum und forum externum. Geschützt ist zunächst das Recht, einen Glauben für sich selbst zu haben und persönlich danach zu leben – das kann man auch im stillen Kämmerlein. Aber dann geht es auch um die Freiheit, den Glauben gemeinsam auszuleben – klassischerweise beim Besuch des Gottesdienstes. Aber ich würde dem noch kein größeres Gewicht zumessen als bei der Kunstfreiheit.

    Warum? Liegen hier vergleichbare juristische Gründe vor?

    Rossi: Auch bei der Kunstfreiheit ist verfassungsrechtlich anerkannt, dass es hier immer zwei Bereiche gibt. Wir sprechen von dem Wirkbereich und dem Werkbereich. Letzterer meint den Künstler, der in seinem Atelier etwas erschafft oder etwas komponiert. Aber zwangsläufig ist er auf den Wirkbereich angewiesen, also die Galerie, das Museum, die Aufführung. Beide Bereiche sind gleichermaßen geschützt. Das ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

    Der Staat darf die Kunst also nicht als zweitrangig und weniger systemrelevant zurücksetzen?

    Rossi: Nein, im Gegenteil. Bei der Kunstfreiheit und ihren coronabedingten Einschränkungen scheint mir ein Argument dafür zu sprechen, dass man sie mindestens genauso behandeln müsste wie Gottesdienste: Denn es tritt bei allen künstlerischen Tätigkeiten noch eine gewisse wirtschaftliche Komponente hinzu. Geistliche erhalten in der Regel ihr Gehalt, auch ohne dass sie Gottesdienste feiern. Künstler leben von den Erträgen ihres öffentlichen Auftritts. Viele unter ihnen sind freiberuflich tätig. Hinzu kommt, dass im Hintergrund von Kunstaktivitäten eine ganze Reihe weiterer Leute wirken vom Marketing über die Produzenten und Komponisten bis zu den Bühnenarbeitern. Daran ist nochmals ein Wirtschaftsbetrieb gekoppelt, sodass nicht allein der Aspekt zählt, dass wir Kunst und Kultur für essenziell für die seelische Entfaltung und das intellektuelle Leben überhaupt halten. Aber auch die wirtschaftliche Komponente würde ich nicht gering achten.

    Der Deutsche Kulturrat forciert die Errichtung eines Bundeskulturfonds für notleidende Kulturbetriebe. Steht der Staat hier in der Pflicht?

    Rossi: So wichtig die finanzielle Unterstützung von Kulturschaffenden ist, so scheint mir doch auch hier die Strategie problematisch zu sein, mit staatlichem Geld die Probleme zuzukleistern. Das dürfte nur die Notlösung sein, die zeitlich befristet ist. Sinnvoller wäre es, dass wir uns als Gesellschaft darauf einrichten, dass wir immer mal wieder mit solchen Pandemien leben müssen.

    Und das heißt?

    Rossi: Es kann nicht die richtige Antwort sein, im Falle einer Pandemie alles einfach zu schließen. Wir müssen mit dem Virus positiv leben, also darauf achten, dass unter anderem kulturelle Institutionen trotzdem öffnen können. So wird gleichzeitig die Selbstverantwortung der Einzelnen gestärkt. Bisher verlassen wir uns darauf: Was ist verboten? Was ist erlaubt? Aber das kann es auf Dauer nicht sein. Sollte uns das derzeitige Virus noch ein Jahr beschäftigen, müssen wir uns klarmachen, dass eine komplette staatliche Kompensation keiner bezahlen kann. Wenn niemand mehr arbeitet, wird auch kein Geld mehr erwirtschaftet.

    Prof. Matthias Rossi, 52, lehrt an der Universität Augsburg Staats-, Verwaltungs- und Europarecht sowie Gesetzgebungslehre.
    Prof. Matthias Rossi, 52, lehrt an der Universität Augsburg Staats-, Verwaltungs- und Europarecht sowie Gesetzgebungslehre. Foto: Universität Augsburg

    Der in allem fürsorgliche Staat scheint nicht Ihr politisches Ideal zu sein?

    Rossi: Es gibt mildere Mittel als einen Lockdown. Das muss man in diesen Krisenzeiten immer wieder betonen: Der Staat muss sich rechtfertigen, wenn er Freiheiten beschränkt – und nicht umgekehrt ein Kulturschaffender, dass er seinen Spielbetrieb wieder aufnehmen will. Wenn wir auf die Augsburger Szene schauen, sind hier auch viele kleinere Akteure unterwegs. Sie wollen Planungssicherheit haben. Sie wollen wissen: Dürfen wir in der nächsten Saison wieder spielen? Deshalb ist es verfassungsrechtlich geboten, dass man sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens an denselben Hygienekriterien bemisst. Die weiter anhaltende Sperrung des Kulturbetriebs wäre verfassungswidrig, weil unverhältnismäßig.

    Würden Sie also einem Schauspieler, Opernsänger oder Orchestermusiker genauso gute Chancen einräumen wie einem Gläubigen, wenn sie vors Bundesverfassungsgericht ziehen, um wieder auftreten zu können?

    Rossi: Mehr als die individuellen Akteure haben wahrscheinlich die institutionellen Akteure wie die Theater oder die Museen Aussicht auf Erfolg. Denn der geforderte Hygieneschutz lässt sich hier bewerkstelligen. Ich habe den Lockdown am Anfang verstanden. Man hat eben innegehalten. Aber jetzt muss der Zug wieder rollen. Lieber das Theater nur halb besetzen und überhaupt spielen, als es komplett zuzumachen. Bei Orchestern wird es wahrscheinlich schwerer werden, die Musiker vor Infektion zu schützen. Aber denkbar sind für den Beginn ja auch kleinere Ensembles. Und auf der Bühne Inszenierungen, bei denen sich die Schauspieler nicht zu nahe kommen.

    Geisterspiele wie in den Fußballstadien sind in Kulturstätten ja nun weniger sinnvoll ...

    Rossi: Was jetzt im Fußball diskutiert wird, müsste aber im Kulturellen genauso gelten. Es gibt keinen Unterschied. Als Verfassungsrechtler muss man sich freimachen von individuellen Interessen. Natürlich ist dem einen die Kirche wichtiger, der andere geht lieber ins Konzert, der dritte schaut sich lieber ein Fußballspiel an. Das sind alles bürgerliche Freiheiten, die wir genießen. Das ist ja das Schöne, dass ich mir meinen eigenen Lebensbereich frei wählen kann. Doch derzeit gibt der Staat unter welchen Kriterien auch immer vor, was wichtig zu sein hat und was systemrelevant ist. Diesen Begriff würde ich allenfalls in einem sehr engen Rahmen bezogen auf das Gesundheitssystem und die Polizei akzeptieren. Aber darüber hinaus ist es nicht einsichtig, danach zu differenzieren, welche Berufe systemrelevant sind oder nicht. Man muss das gar nicht begründen. Man will einfach eine bestimmte Freiheit ausüben, und das Grundgesetz gibt einem das Recht dazu.

    Zur Person Prof. Matthias Rossi, 52, lehrt an der Universität Augsburg Staats-, Verwaltungs- und Europarecht sowie Gesetzgebungslehre.

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